Bericht zum Brand von Grenfell Tower: Versäumnis, Inkompetenz, Täuschung
Der Untersuchungsbericht zum Hochhausbrand von 2017 mit 72 Toten listet schonungslos Mängel auf. Nun sind Politik und Justiz am Zug.
London taz | „Nicht alle tragen das gleiche Ausmaß an Verantwortung für das Desaster. Aber alle haben in der einer oder anderen Art dazu beigetragen – meist durch Inkompetenz, aber in einigen Fällen durch Unehrlichkeit und Gier:“ Mit scharfen Worten begann der ehemalige Richter Sir Martin Moore-Bick am Mittwoch die Präsentation des Abschlussberichts der öffentlichen Untersuchung zum Londoner Hochhaus-Großbrand im Sozialwohnblock Grenfell Tower vor über sieben Jahren. Eine Mammutarbeit: über 300 Anhörungen, um die 320.000 Dokumente, Gesamtkosten von mehr als 200 Millionen Euro.
72 Menschen, 18 davon Kinder, starben am Morgen des 14. Juni 2017 bei einem Großbrand im 24-stöckigen, gerade fertig renovierten Hochhaus Grenfell Tower, ein Block aus den 1970er Jahren. Sie alle erstickten an giftigen Gasen und am Rauch, bevor viele von ihnen außerdem verbrannten.
Die erste Phase der Untersuchung hatte zweifelsfrei festgestellt, dass das Feuer über die neue metallische Außenwand, die einfach an die alte Betonwand drangesetzt worden war, in nur 18 Minuten aus dem Brandherd im vierten Stock über 19 Stockwerke bis ans Dach stieg und sich dann um das Haus herum entfaltete, dank der neuen Außendämmung und Fassade, die beide äußerst brennbare Materialien enthielten.
Anweisungen der Rettungsdienste an die Bewohner, in ihren Wohnungen zu warten, wurden für viele zum Todesurteil, denn als das ganze Gebäude brannten, konnten sie weder hinaus noch Einsatzkräfte hinein.
Die erste Phase der Untersuchung behandelte den Brand an sich, die zweite und letzte Phase die vorherigen Renovierungsmaßnahmen und die Bergungsmaßnahmen und Umstände nach dem Inferno. Auf über 1800 Seiten kann man nun jedes Detail nachlesen, darunter auch die Aussagen vieler Überlebender.
„Eine Aneinanderreihung von Fehlern über Jahrzehnte“
„Der Brand ist die Folge einer Aneinanderreihung von Fehlern der Regierung und anderer Körperschaften über Jahrzehnte“, liest man im Bericht. Sie seien ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, insbesondere bezüglich der Anwendung von brennbaren Materialien an den Außenwänden von Hochhäusern, trotz mehrerer Vorfälle damit und Hinweisen parlamentarischer Ausschüsse.
In seiner Abschlusserklärung unterstrich Moore-Bick die Mängel: Eine schlecht organisierte Ministerialabteilung, wo ein relativ niederer Beamter allein die Verantwortung für die gesamte Feuersicherheit im Bauwesen trug und wichtige Informationen nicht weitergab. Die Privatisierung der zuständigen Behörde BRE (Building Research Establishment). Die Missachtung von Hinweisen und Empfehlungen etwa der Gerichtsmedizin nach einem anderen Hochhausbrand im Jahr 2009.
„Die Politik der Deregulierung dominierte die Regierung dermaßen, dass selbst Anliegen, die mit dem Schutz von Leben zu tun hatten, ignoriert, verzögert oder nicht beachtet wurden“, heißt es im Bericht. Eine robustere Prüfstelle hätte verhindern können, dass Bauunternehmen bei Tests der Tauglichkeit ihrer Materialien schummeln, oder hätte zumindest Zertifizierungen überprüfen können.
Weitere Abschnitte behandeln das von der zuständigen Bezirksverwaltung bestellte Management des Hochhauses, das die Sanierung von Grenfell Tower in Auftrag gegeben hatte. Zum Anbau einer brennbaren Außenwand sei es aus Kostengründen gekommen. Weder die Architekt:innen noch die Baufirmen hätten ihre Pflichten verstanden oder beachtet und jeder habe die Verantwortung für Feuersicherheit auf andere geschoben, heißt es. Die mit der Endabnahme beauftragten Prüfer hätten keinen Endbericht verfasst und dies sei auch nicht verlangt worden.
Keir Starmer entschuldigt sich im Parlament
Nach hunderten Seiten voller Versäumnisse, Inkompetenz und Täuschung sind die Empfehlungen des Untersuchungsberichts nahezu schlicht. Zentral sei die Schaffung einer einzigen öffentlichen Prüfstelle, geführt von einer Person mit klarem Zugang zum zuständigen Regierungsmitglied. Zusätzlich müsste eine Art Chefberater:in für das Bauwesen eingeführt werden, welche die Regierung beraten und die Industrie überwachen kann.
Sir Martin Moore-Buck beendete seine Präsentation mit dem Vorlesen der Namen aller 72 Opfer.
Die Überlebendenorganisation Grenfell United nennt den Untersuchungsbericht einen wichtigen Schritt Richtung Wahrheit, Gerechtigkeit und Veränderung. Der Bericht zeige, dass im Vereinigten Königreich Amateure sich als Experten verkaufen und so unzählige Menschenleben gefährden könnten. Es sei wichtig, dass die Regierung nun Menschen vor Profit stellen. Grenfell United forderte, dass die zuständigen Hersteller Arconic, Kingspan, Celotex und das Bauunternehmen Rydon keine Staatsaufträge mehr erhielten und dass es nun strafrechtliche Konsequenzen gibt.
Der neue Labour-Premierminister Keir Starmer reagierte umgehend im Unterhaus. In Anwesenheit einiger Überlebender und Angehöriger entschuldigte er sich im Namen der Regierung und sagte, er trage die Verantwortung für die Bauaufsicht. Er werde alle 58 Empfehlungen einsehen und in sechs Monaten beantworten. Alle Regierungsämter und Behörden seien angewiesen, nicht mit den im Bericht erwähnten Unternehmen zu arbeiten oder ihnen Aufträge zu geben.
Alle 1,5 Millionen geplanten neuen Sozialwohnungen würden mit den höchsten Sicherheitsstandards gebaut werden, versprach Starmer, und verbleibende brennbare Außenfassaden würden rasch abgebaut. „Wir werden den Generationswechsel in Sicherheit und Qualität für alle in diesem Land im Namen der Erinnerung an Grenfell liefern“, sagte er.
Polizei übergibt Ermittlungsergebnisse
Der nächste Schritt ist nun die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für den Brand. Die Londoner Polizei hatte immer angegeben, dass dies erst nach Ende des Untersuchungsausschusses beginnen könne, dass jedoch Ermittlungen parallel zur Untersuchung laufen.
Der zuständige Polizeibeamte Stuart Cundy sagte, die Akten würden nun der Staatsanwaltschaft übergeben. Insgesamt 180 Beamte seien beteiligt gewesen, 19 Unternehmen oder Organisationen und 58 Personen seien strafverdächtig. Neben Befragungen von 50 Personen sammelte die Polizei 27.000 Teile zur forensischen Untersuchung in einer 635 Quadratmeter großen Halle, darunter Teile der Außenabdeckung und Dämmung. Mit dem Ende der Beweisauswertung wird nicht vor Ende 2026 gerechnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk