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Ausstellung von Künstler aus CharkiwWiderständiger Beton

Seine schrille Sozialkritik am Postsowj-Alltag hat Sergiy Bratkov seit Kriegsbeginn abgelegt. Zu sehen ist seine Kunst im Kunstmuseum Magdeburg.

Auch „My Brother’s Cats“ schaffen manch absurdes Alltagsbild, Sergiy Bratkov, 2022/23 (Detail) Bild: Sergiy Bratkov

Magdeburg taz | Mehrfach hat der Fotograf und Multimediakünstler Sergiy Bratkov, 1960 in Charkiw geboren, seinen Vater porträtiert. Ein kleines Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1995 zeigt ihn zusammen mit seinem Vater, beide mit Anzug, Hut und Krawatte wie zum förmlichen Ausgehen gewandet, in einer Zimmerecke auf dem Bett des Vaters vertraulich eng zusammensitzend.

Die Wandecke scheint mit einem gewebten Teppich, einer Art Kelim, ausgekleidet. Dessen grafisches Muster beherrscht fast die Bildkomposition, zumindest verleiht es dem ohnehin schon etwas surrealen Setting eine weitere Verfremdung. Das letzte Foto, das Bratkov dem Vater widmete, stammt aus dem Jahr 2013.

Nochmals sitzt der nun sehr alt gewordene Herr auf diesem Bett, jetzt allein, vor dieser auffälligen Wandgestaltung. Er trägt ein zerschlissenes Nachthemd, ein vollgekleckertes Lätzchen und ist umgeben von beschmutzter Bettwäsche. Zwei Plastikkanister sind als improvisierte Stützen unter die Arme geschoben.

Obwohl die hygienisch prekären Umstände sofort abstoßen, strahlt dieses Motiv eine fast altmeisterliche Schönheit aus. Es ist eine ungewöhnliche Würde, getragen nicht nur von der eindringlichen Präsenz des Porträtierten, sondern auch dem einfühlsamen Bildzugriff des Sohnes.

Ausstellung in Magdeburg

Der großformatige farbige Fotoausdruck hängt nun in einer Ausstellung, die das Kunstmuseum Magdeburg Sergiy Bratkov eingerichtet hat. Hier erfährt man auch, dass Bratkov senior, Jahrgang 1922, eine künstlerische Karriere anstrebte. Anfang der 1940er Jahre hatte er bereits in den USA ausgestellt, die Pflicht, im Zweiten Weltkrieg für die Rote Armee zu kämpfen, vereitelte weitere Ambitio­nen.

Der Krieg, nun der Angriff Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022, hat auch das Leben von Sergiy Bratkov verändert. Er versteht sich als Vertreter einer jüngeren Generation jener informellen Charkiwer Schule für Fotografie, die seit den 1960er Jahren mit Ironie und eigensinnigen künstlerischen Techniken die sowjetische Doktrin des sozialistischen Realismus unterlief.

Die Ausstellung

„Sergiy Bratkov. My Brother’s Cats“: Kunstmuseum Magdeburg Kloster Unser Lieben Frauen, bis 6. Oktober

Bratkov wählte lange Zeit recht schrille, mitunter obszöne Ausdrucksformen, verstand es, damit große Ausstellungshäuser zu füllen, etwa 2008 das Fotomuseum Winterthur und anschließend die Hamburger Deichtorhallen.

Mit seiner direkten, oft skurril schonungslosen Sozialkritik des Alltags nach dem Niedergang der Sowjetunion, die einem Martin Parr in nichts nachsteht, hatte er lange Zeit auch in Russland Erfolg: 2001 war er nach Moskau gezogen, lehrte dort an der Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia als Leiter der Klasse „Fotografie, Skulptur und Video“, stellte aus und kuratierte.

2022 hat Bratkov Russland verlassen, lebt seitdem in Deutschland. In Magdeburg schlägt er differenzierte Töne an, die abbildende Fotografie scheint ihm aktuell nebensächlich, vielleicht gar unmöglich.

Düstere Übermalungen von Zeitungsausschnitten

Beklemmend sind seine düsteren Übermalungen vergrößerter Zeitungsausschnitte, die über Zerstörungen in Charkiw informieren. Bildfragmente sind noch zu erkennen, ein Fenster, eine Gardine. Ihnen stellt er eine frühe Arbeit entgegen, den Leuchtkasten einer schwarz-weißen Mehrfachbelichtung der konstruktivistischen Architekturikone und Welterbe-Kandidatin Charkiws, des Dersch­prom-Hochhauskomplexes. Dessen Stahlbeton ist längst zum Sinnbild der Widerstandskraft der Stadt geworden.

Weniger zuversichtlich sind Bratkovs ganz neue Malereien aus großen Lettern und Worten im Geiste konstruktivistischer Plakatkunst der 1920er Jahre. Mit „втрати ворога“ (Gegnerische Verluste) etwa beklagt er darauf, dass russische Freunde nun zu Feinden gemacht wurden, ohne dass sie persönlich verantwortlich wären.

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