Trauma in ostdeutschen Bundesländern: Eine Frage der Perspektive
Sachsen fühlen sich oft abgehängt. Dieses Gefühl, das sogenannte Ost-Trauma, wird seit Jahren zusammen mit einem Rechtsruck erforscht.
Das starke Abschneiden der AfD bei den Kommunalwahlen im Juni, die aggressiven Gegendemonstrationen von Rechtsextremen beim CSD in Bautzen – und wieder geht ein Aufschrei durch die Bundesrepublik. Denn offenbar hat Sachsen noch immer ein Problem mit Neonazis. Im In- und Ausland wundert man sich, was da im Osten Deutschlands eigentlich los ist.
Es wird bereits länger im Zusammenhang mit einem Rechtsruck erforscht und im Deutschlandmonitor 2023 wieder vermehrt bei Ostdeutschen festgestellt: das Gefühl des Abgehängtseins. Doch wo findet dieses Gefühl seinen Ursprung und welche Faktoren begünstigen es heutzutage?
Der Mauerfall – er wird in Geschichtsbüchern oft als Moment purer Befreiung dargestellt. Gerade so, als ob die Wiedervereinigung eine unmittelbare Gleichstellung von Ost und West mit sich gebracht hätte. Die Realität des Nachwende-Ostdeutschlands sah jedoch anders aus. Mit der Wende kam 1990 der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zustande. Damalige BRD-Politiker wie Helmut Kohl oder Willy Brandt warben bei den DDR-Bürger:innen mit großen Versprechungen und ließen Hoffnungen wachsen, dass der materielle Wohlstand bald auch in den neuen Bundesländern ankommen würde.
Jedoch war die DDR-Wirtschaft nicht auf die Konkurrenz des globalisierten Weltmarktes vorbereitet und brach innerhalb kürzester Zeit zusammen. Gemessen am Umsatz waren DDR-Unternehmen 1998 im Durchschnitt nur 60 Prozent so produktiv wie Westunternehmen. Die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, sodass zwischen der Wiedervereinigung und 2005 laut Bundeszentrale für politische Bildung jede fünfte Person im erwerbsfähigen Alter arbeitslos war. Die frisch gewonnene Hoffnung vieler Ostdeutscher auf ein materiell den Westbürger:innen gleichendes Leben verwandelte sich in Enttäuschung.
Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden
Differenzen zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaft
Bis heute konnten viele Versprechungen der Wiedervereinigung nicht gehalten werden, das Gefühl der Unzufriedenheit bleibt auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung bestehen. So sind ostdeutsche Unternehmen durchschnittlich nur 76 Prozent so produktiv wie die westliche Konkurrenz. Laut der Bundesagentur für Arbeit ist die Arbeitslosigkeit mit 7,2 Prozent im Jahr 2023 nach wie vor höher als in den alten Bundesländern (5,3 Prozent).
Und noch immer liegt die Lohnlücke von Vollzeitbeschäftigten zwischen Ost und West laut Statistischem Bundesamt bei durchschnittlich etwas mehr als 800 Euro brutto im Monat. Vom demselben Bundesamt wurde 2023 die anhaltende Abwanderung ostdeutscher Menschen zwischen 18 und 25 Jahren nach Westdeutschland festgestellt. Vor allem junge Frauen verließen ihre Heimat, zurückblieben laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung meist Menschen mit weniger hohem Bildungsgrad, die ostdeutsche Bevölkerung überaltert stetig.
Im Deutschlandmonitor 2023 wird aufgezeigt, dass all diese Faktoren, neben der persönlichen Lebenssituation, ein Gefühl des Abgehängtseins, ein Krisengefühl, begünstigen können. Dieses Einstellungsmuster wiederum sei unter der Anhängerschaft der populistischen AfD unter allen Parteien am meisten verbreitet, so die Studie. Das Gefühl des Abgehängtseins sei auch ein Erklärungsfaktor für politische Einstellungen wie beispielsweise fehlendes Vertrauen in die Bundesregierung.
Im Deutschlandfunk-Interview sagt Steffen Huck vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, dass es „alternative positive Gegenentwürfe“ geben müsse, die den „negativ besetzten Themen der AfD“ entgegengesetzt werden sollten. Gemeint ist damit, dass die AfD sich in ihrer Politik vor allem auf Defizite stützt und Ängste schürt. Das aktuelle sächsische Regierungsprogramm der AfD beispielsweise beginnt mit der Behauptung, dass „im Namen Europas Wohlstand vernichtet“ werde.
Positive Gegenentwürfe könnten beispielsweise aufzeigen und darauf aufbauen, dass das sächsische Bruttoinlandsprodukt seit 2020 stetig wächst und im mittleren Feld der Bundesländer liegt. Oder dass der Gender-Pay-Gap in Ostdeutschland im Jahr 2023 mit 7 Prozent wesentlich kleiner war als in Westdeutschland (19 Prozent, Deutsches Institut für Altersvorsorge). Die Sachsen können also fortschrittlich sein, wenn sie wollen. Auch ohne Angst und AfD.
Julemarie Vollhardt, 25, wuchs in Kamenz auf und ging nach ihrem Jurastudium nach Australien. Dort setzt sie sich für den Klimaschutz ein und schreibt mal aus dem Van, mal von einer Farm aus frei über intersektionalen Feminismus und den Rechtsruck, den sie auch in ihrer Heimat beobachtet.
FOTO: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
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