Eine späte Diagnose: ADHS und die Perspektiven of Color

Wenn Matze im Unterricht nicht mitkommt, muss man das mal checken lassen. Wenn Malik das gleiche Verhalten zeigt, wird die Sache nicht ernst genommen.

Himmel mit Blitz.

Symptome so auffällig wie ein Faschingsumzug Foto: Patrick Pleul/dpa

Ich war über vierzig, als ich rausgefunden habe, dass ich ADHS habe. Dabei (das weiß ich heute) habe ich schon als Kind Symptome gezeigt, die so auffällig waren wie ein Faschingsumzug.

Darüber, warum Frauen oft erst später im Leben diagnostiziert werden, wurde schon viel geschrieben und es ist einfach, Geschichte und Berichte von Frauen mit ADHS im Netz zu finden, mit denen ich meine eigenen Erfahrungen abgleichen kann. Was mal wieder fehlt, sind Perspektiven of Color und die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle „race“ bei alldem spielt. Denn Stereotype und rassistische Zuschreibungen bringen PoC um ihre Diagnose.

Wenn Matze im Unterricht nicht mitkommt, unkonzentriert ist und stört, muss man das mal checken lassen. Vielleicht ist es ADHS oder er ist hochbegabt und gelangweilt? Wenn Malik das gleiche Verhalten zeigt, liegt das wahrscheinlich daran, dass er ein Migrantenkind ist und es zu Hause bestimmt schwer hat oder … na ja… südländisches Temperament.

Dass es gefährlich ist, Menschen aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft bestimmte Verhaltensmuster oder Charaktereigenschaften zuzuschreiben, weiß ich – und merke doch in der Aus­einandersetzung mit ADHS, wie sehr ich selbst darauf reingefallen bin, wie sehr meine Versuche, nicht „anders“ zu sein oder als Schwarze Person in Deutschland nicht negativ aufzufallen, dazu geführt haben, dass ich viel zu lange gebraucht habe, meinen Symptomen auf den Grund zu gehen.

So einiges los in mir

Es gab ja immer bereits eine andere Erklärung für meine Struggles: Der tägliche Kampf gegen Rassismus ist eine Belastung im Alltag, klar bin ich da weniger konzentriert als andere. Und stimmt es nicht auch, dass ich durch meine westafrikanische Familie Werte und Verhaltensweisen mitbekommen habe, die hier irgendwie nicht reinpassen?

Nach meiner Diagnose war so einiges los in mir. Ich habe mir viele Fragen gestellt und bin gedanklich immer wieder in die Vergangenheit gereist. Habe Situationen analysiert und Muster entdeckt. Ich war erleichtert und habe gleichzeitig getrauert. Ich hatte das Gefühl, mich bei mir entschuldigen zu müssen, für die Ungerechtigkeit mir selbst gegenüber und das wenige Verständnis, das ich mir gezeigt habe.

Ich hatte das Glück, direkt nach meiner Diagnose gute Beratung und Unterstützung zu finden. Seitdem habe ich viel gelernt und verstanden. Dieses Wissen hilft mir und meinem Hirn jeden Tag das Chaos in den Griff zu bekommen und sich besser auf die Welt einzustellen. Wir arbeiten jetzt miteinander und nicht gegeneinander. Das hätten wir schon früher haben können.

Was ADHS bei PoC angeht, fehlt es an Repräsentation. Schwarze In­flu­en­ce­r*in­nen und Au­to­r*in­nen zu finden, die ihre ADHS-Erfahrungen teilen, ist nicht leicht. Studien zur Intersektion von „race“ und ADHS habe ich nur aus Nordamerika gefunden. Ich hoffe, dass sich diese Lücke bald schließt und mehr Wissen dazu zugänglich wird, damit PoC in Zukunft nicht nur schneller zu ihren Diagnosen kommen, sondern auch Verständnis und Unterstützung finden.

Bis dahin werde ich selbst mehr über meine Auseinandersetzung schreiben – und Wissen und Erfahrungen teilen. Oder einfach Fragen in die Runde werfen. Ich glaube, das ist nach wie vor der beste Weg, um Menschen zu finden, die ähnliche Wege gehen und mit denen man sich verbinden und austauschen kann.

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Simone Dede Ayivi ist Autorin und Theatermacherin. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim. Aktuell arbeitet sie zu den Themen Feminismus, Antirassismus, Protest- und Subkultur.

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