Behandlungsfehler in der Medizin: Am falschen Bein operiert

Nur ein Bruchteil der schweren Behandlungsfehler wird erfasst. Der Medizinische Dienst fordert Meldepflicht und kritisiert Untätigkeit der Regierung.

Meistens geht im Operationssaal alles gut – aber was, wenn nicht? Foto: Rupert Oberhäuser/imago

Das falsche Bein operiert, versehentlich sterilisiert, Tupfer im Bauchraum vergessen – die Klassiker der Behandlungsfehler kommen Jahr für Jahr vor und sind noch am leichtesten nachzuweisen. Knapp 2.700 Fälle hat der Medizinische Dienst der Krankenkassen 2023 begutachtet, in denen ein Behandlungsfehler die klare Ursache für einen Schaden der Pa­ti­en­t*in­nen war. Bei einem Drittel der Fälle war dieser Schaden dauerhaft – bis hin zur Pflegebedürftigkeit. Knapp 3 Prozent verstarben.

Und das ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt des Ausmaßes: 97 Prozent der Behandlungsfehler würden nie nachverfolgt, sagte Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund, am Donnerstag bei der Vorstellung der Zahlen. Er wirft dem Bundesgesundheitsministerium Untätigkeit vor.

Behandlungsfehler sind keine hinzunehmenden Neben­wirkungen, für die Pa­ti­en­t*in­nen vorab einen Aufklärungsbogen unterschreiben. Sondern eine vermeidbare Verletzung der Sorgfaltspflicht, ein unerwünschtes Abweichen vom medizinischen Standard. „In der Regel ist das nicht der Fehler eines Einzelnen“, betont Gronemeyer. Besonders die sogenannten Never Events – schwere Fehler wie die OP am falschen Körperteil – wiesen auf systematische Pro­ble­me bei den Behandlungsabläufen hin.

In einem 2018 veröffentlichten Weißbuch des Aktionsbündnisses Patientensicherheit gehen die Au­to­r*in­nen davon aus, dass in einem Prozent aller Krankenhausbehandlungen (2022: 16,8 Millionen) Behandlungsfehler unterlaufen, 0,1 Prozent würden zu vermeidbaren Todesfällen führen.

Die vom Medizinischen Dienst vorgestellten Zahlen betreffen dagegen nur die von Pa­ti­en­t*in­nen an die Krankenkassen gemeldeten Fälle. Rund 12.400 Gutachten erstellte deren Medizinischer Dienst 2023. Bei einem Viertel der Fälle konnte ein Schaden und ein Behandlungsfehler festgestellt werden. Bei einem Fünftel – den erwähnten 2.700 – betrachteten die Gut­ach­te­r*in­nen den Fehler als ursächlich für den Schaden.

Doch selbst dann ist der Weg zum Schadenersatz weit und führt über Gerichte, vor denen die Beweislast, außer in Fällen offensichtlicher grober Fahrlässigkeit, beim Patienten liegt. Wie hoch die Erfolgsquote solcher Verfahren ist, werde nicht systematisch erhoben, sagt Gronemeyer. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze (SPD), kritisiert, dass die Hürden für die Pa­ti­en­t*in­nen vor Gericht zu hoch seien. Er fordert eine Absenkung des Beweismaßes auf eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“, so wie es in anderen Ländern üblich sei.

In Ländern wie Großbritannien und Schweiz hat sich auch eine systematische Erfassung und Veröffentlichung schwerer Behandlungsfehler etabliert, so der Medizinische Dienst. Die Weltgesundheitsorganisation hält in ihrem globalen Aktionsplan für Patientensicherheit fest, dass bis 2030 90 Prozent der Mitgliedsländer ein System zur Erfassung von Never Events einführen soll. Ziel solcher Register ist die Prävention von Behandlungsfehlern und die Bewertbarkeit von Maßnahmen zur Sicherung der Behandlungsabläufe.

„Von einer systematischen Vermeidung von Behandlungsfehlern sind wir in Deutschland weit entfernt“, sagt Gronemeyer und drängt genau wie der Patientenbeauftragte der Bundesregierung auf eine Meldepflicht für Never Events – über eine Vertrauensstelle, an die Kliniken ohne die Gefahr von Sanktionen schwerwiegende Fehler in der Behandlung melden können. In Richtung der Ärzteverbände kritisiert Gronemeyer eine pro­ble­ma­ti­sche Sicherheitskultur, in der Ärz­t*in­nen keine Fehler machen (dürfen) und Transparenz angeblich das Vertrauen der Pa­tien­t*in­nen erschüttere. „Ich bin überzeugt, das Gegenteil ist der Fall“, so Grone­meyer.

Vom Bundesgesundheitsministerium gab es auf Anfrage kein Bekenntnis zu einem Never-Event-Melderegister. Das Ministerium befürchtet zu viel Bürokratie und verweist auf bestehende und im Rahmen der Krankenhausreform geplante Maßnahmen zur Qualitätssicherung sowie freiwillige Initiativen der Kliniken.

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