Diskussion über Polizeigewalt: Aktivist:innen im Schmerzgriff
Extinction Rebellion zettelt in Hannover eine Debatte über Polizeigewalt gegen Klimaaktivisten an. Der Redebedarf in der Bewegung ist groß.
![Klimaaktivisten in orangen Warnwesten liegen gefesselt auf der Straße, ein Polizist kniet auf dem Kopf und Hals einer jungen Aktivistin Klimaaktivisten in orangen Warnwesten liegen gefesselt auf der Straße, ein Polizist kniet auf dem Kopf und Hals einer jungen Aktivistin](/picture/7089436/624/StefanMueller-Polizist-kniet-auf-Hals-b-53565577619-c0eb692ba2-o-1.jpeg)
Alle milderen Mittel ausgeschöpft? Manche Polizeiaktionen werfen Fragen auf. Gerichtlich geklärt werden die aber so gut wie nie Foto:
Stefan Müller
HANNOVER taz | Am Anfang sind es ja oft nur Einzelne, von denen das ausgeht, sagt Stefan Müller. Bei der Berliner Polizei beispielsweise gebe es diesen einen Typen – „so ein Rothaariger“ – wenn der kommt, fangen die Aktivisten schon an zu rufen: „Presse, Presse, bitte hierher!“ Weil er bekannt dafür ist, Schmerzgriffe anzuwenden, möglichst hart hinzulangen – selbst bei friedlichen Sitzblockaden, wo man die Leute auch einfach wegtragen könnte.
Eine schwierige und undankbare Rolle für den Vertreter der Polizei
Stefan Müller ist Fotojournalist. Seit 2019 begleitet er Klimaproteste und seit einiger Zeit hat er das Gefühl, dass dabei etwas aus dem Ruder läuft. Damit erklärt er, warum er nun auf diesem Podium im Kulturzentrum Pavillon in Hannover sitzt. Und das zustimmende Gemurmel aus dem Publikum macht deutlich, dass er mit diesem Gefühl nicht allein ist.
Mehr als hundert Leute sind an diesem Dienstagabend zusammengekommen, obwohl es draußen heiß ist und Fußball läuft. Eingeladen haben das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, Extinction Rebellion und der Pavillon zum Thema „Polizeigewalt gegen Klimaaktivist*innen“.
Und wenn man sich in diesem Publikum umschaut, ahnt man schnell, woher der Redebedarf kommt: Die Klimabewegung rekrutiert sich immer noch aus überwiegend weißen, bürgerlichen Kreisen, das Altersspektrum reicht sehr weit – von jungen Aktivisten bis zu älteren Herrschaften.
Erschüttertes Vertrauen in den Rechtsstaat
Das sind keine Menschen, die mit der Polizei als Feindbild aufwachsen, eher im Gegenteil. Die Erfahrung von Gewaltanwendungen, die sie als unverhältnismäßig empfinden, erschüttert ihr ursprüngliches Vertrauen in den Rechtsstaat.
Wie bei Edmund Schultz aus Braunschweig: Er schildert, wie er bei einer Sitzblockade der Letzten Generation von einem Polizisten von hinten umgerannt und so brutal angerempelt wurde, dass er sich das Schlüsselbein brach und eine Gehirnerschütterung zuzog.
Der Polizist behauptete später, er sei über den Bordstein gestolpert. Auf eine Anzeige verzichtete der Aktivist trotzdem: Man habe ihm davon abgeraten, sagt er. Weil man am Ende nur eine Gegenanzeige kassiert.
Das passt zu dem, was die Rechts- und Politikwissenschaftlerin Hannah Espín Grau zuvor schon ausgeführt hat. Sie gehört zur Forschungsgruppe um Tobias Singelnstein an der Universität Frankfurt und gibt einen kurzen Einblick in die Studie „Gewalt im Amt“.
Darin beschäftigt sie sich unter anderem mit der Frage, warum so viele Verfahren gegen Polizisten von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Aber auch damit, wie innerhalb des Apparates selbst die Gewaltausübung gerechtfertigt, normalisiert oder reglementiert wird.
Der Kriminaloberrat hat einen schweren Stand
Für die Polizeiperspektive sind an diesem Abend Kriminaloberrat Markus Hackl von der Polizeidirektion Hannover und die Dokumentartheatergruppe Werkgruppe 2 zuständig. Das ist vor allem für Hackl eine äußerst schwierige und undankbare Rolle, immerhin kann er zu den Einsätzen, von denen hier die Rede ist, kaum etwas Sinnvolles sagen – er war ja nicht dabei.
So bleibt ihm nur immer wieder, einen differenzierten Diskurs einzufordern und darauf zu verweisen, dass es in der Polizei – insbesondere in Hannover – ja durchaus Reflexions- und Veränderungsprozesse gibt.
Sehr viel freier aufspielen können da die Schauspieler der Werkgruppe 2. Mit ihrem Stück „Hier spricht die Polizei“ sind sie gerade noch bei den Ruhrfestspielen gefeiert worden, ab September wird es im Ballhof gezeigt. Es basiert auf Interviews mit Polizisten aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Und schon der kleine Auszug, den sie hier präsentieren, fächert ein beeindruckendes Spektrum auf. Von trotzigen Rechtfertigungsversuchen nach fragwürdigen Demo-Einsätzen bis zur fühlbaren Erschütterung nach einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt, bei dem kleine Kinder aus einer blutverschmierten Wohnung geholt werden mussten, in der ein Mann gerade versucht hatte, seine Frau abzustechen.
Das dürfte ein Moment sein, in dem auch vielen Aktivisten das „Defund the police“ nicht mehr ganz so leicht über die Lippen geht. Und eigentlich – darauf weisen alle Diskussionsteilnehmer auf unterschiedliche Art und Weise hin – müsste die Diskussion da überhaupt erst ansetzen.
Viele Fragen bleiben unbeantwortet
Bei Fragen wie: Welche Polizei wollen wir eigentlich? Und wie bekommt man das hin? Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Stimmung, der politische Diskurs beim mal mehr, mal weniger rabiaten Vorgehen der Polizei? Welche Rolle spielen die Bilder im Kopf, spielt die tatsächliche oder vermutete Radikalisierung auf der anderen Seite dabei, das eigene Handeln zu rechtfertigen?
Diese Fragen können an diesem vollgepackten Abend, zu dem auch noch das Orchester Musica assoluta und der Rapper Amewu beigetragen haben, nur angetickt werden. Aber vielleicht, äußert sich Mit-Organisator Jürgen Manemann am Ende hoffnungsvoll, ist dies ja auch bloß der Auftakt.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
@RUDOLF FISSNER
"Ich hab mal für Sie die Schmaschienenarbeit gemacht."
Das legt lediglich nahe, dass Sie die Suchmaschienen... falsch bedienen.
Hier [1] was für Sie zum daddeln (obwohl ich fürchte, dass das vergebene Liebesmüh' ist).
[1] www.lto.de/recht/h...cht-klimaproteste/
tomás zerolo
Bei Herrn Fissner tickt mal wieder der McCarthymeter aus.
Das Hauptthema hier, dass die Polizist*innen, die uns eigentlich beschützen sollten gelegentlich vermöbeln scheint nicht interessant genug.
Normal.
Thomas Brunst
Na Klasse, die Polizei Berlin beschäftigt also einen berüchtigten "Ober-Quäler" ("so ein Rothaariger") der hin und wieder auf Demonstranten losgelassen wird um für Schmerzen, Angst & Schrecken zu sorgen.
Was sagen denn die Polizei-Gewerkschaften (Landesverbände Berlin) zu dieser Vorwurfslage gegen die Hauptstadt-Polizei?
tomás zerolo
@MICHAS WORLD
Das sind eben keine legitimen Mittel. In einem Rechtsstaat heisst die Kehrseite des Gewaltmonopols eben "verhältnismässig" und "mildest mögliches Mittel" [1] (gilt übrigens auch bei Notwehr!).
(In den oben aufgeführten Beispielen hält sich die Polizei gerade *nicht* daran).
Wenn sie einen Staat brauchen, das Ihrer... Phantasie entspricht, dann sind Sie vielleicht in Belarus besser aufgehoben.
[1] Die Suchmaschinenarbeit überlasse ich mal Ihnen.
Rudolf Fissner
@tomás zerolo "Die Suchmaschinenarbeit überlasse ich mal Ihnen."
Ich hab mal für Sie die Schmaschienenarbeit gemacht. Ich konnte keine Urteile finden, in denen konkrete Anwendungen des Schmerzgrifts als "unverhältnismäßig" von Gerichten beurteilt wurden.
Damit sind ihre Vorwürfe was konkrete Fälle betrifft gegenstandslos.
Stefan Wunder
Polizisten sollten nur noch mit eingeschalteter Bodycam samt Sprachaufzeichnung in der Öffentlichkeit unterwegs sein.
Das dient sowohl ihrem eigenen Schutz, als auch dem Schutz der Zivilbevölkerung vor schwarzen Schafen unter ihnen, würde das Vertrauen in Polizei und Rechtsstaat wieder stärken.
Jeder Lagerarbeiter muss sich gefallen lassen, während der Arbeit videoüberwacht zu werden, und da geht es nur um Waren.
Desweiteren ist es von einem Polizisten zu verlangen, seine Anzeigen sofort nach Einsatzende zu fertigen. Und nicht erst zu warten, bis ihn jemand anzeigt, um dann mit einer Gegenanzeige zu reagieren.
Denn wenn er angegriffen wurde, wurde sein Amt und nicht seine Person angegriffen, er ist also verpflichtet, dies zur Anzeige zu bringen.
Rudolf Fissner
@Stefan Wunder Sie wollen, dass die Polizei Demonstranten nicht nur unter bestimmten Umständen filmen darf sondern immer soll?
Da werden aber viele Demonstranten gar nicht mit einverstanden sein. Überwachungsforderungen sind kene Lösung.
Wenn Demonstranten unverhältnismäßige Maßnahmen der Polizei beobachtet haben, dann sollen diese doch ihre bestimmt werden mmer vorhandenen Videoaufnahmen offen legen bzw. solche immer mit einplanen.
Dann muß man sich auch nicht mit Stories auseinandersetzen, die auf Behauptungen basieren.
Brot&Rosen
welchen rechtsstaat wollen wir? einen sog. "starken staat", wo sich polizeigewalt gegen alle möglichen menschen + deren aktionen richtet?
haben wir den nicht bereits? die junge welt kriegte ihn zu spüren (by the way: ich finde jw nicht besonders gut, bsw unterstützerInnen, komisch)
- aber: der staat geht die jw mit einem seltsamen + merkwürdigen vorwurf an:
die klassengesellschaft. wer so was richtig fände, sollte verboten werden oder so.
als ob die jw so bedrohlich wie die afd wäre.
also lest selbst:
"Aus: Grundrechte verteidigen, Beilage der jW vom 29.06.2024
Staat gegen junge Welt
Ein Gespenst geht um in Deutschland – der Klassenbegriff
Die Bundesregierung kriminalisiert einen zentralen Terminus der Sozialwissenschaften
Von Christoph Butterwegge"
www.jungewelt.de/beilage/art/477512
die taz könnte ruhig mal dazu was machen, meine meinung!
Rudolf Fissner
@Brot&Rosen Ist das nicht eine super Gelegenheit in der jw wieder einmal das Thema Gewalt als Mittel im politischen Kampf zu thematisieren? 🤪
www.sueddeutsche.d...gsschutz-1.5296592
tomás zerolo
Kann ich leider aus einiger Demo-Erfahrung nur bestätigen. Insbesondere tatsächlich bei Aktionen der Klimabewegung.
Es gehört einiges an Vorbereitung seitens der Aktivistis dazu, sich ohne Gegenwehr in einen Schmerzgriff nehmen zu lassen: die Polizist*innen könnten wenigestens dafür dankbar sein.
"So bleibt ihm nur immer wieder [...] darauf zu verweisen, dass es in der Polizei – insbesondere in Hannover – ja durchaus Reflexions- und Veränderungsprozesse gibt."
Dann macht doch, verdammt noch mal, diese Prozesse transparent. Redet mit den Leuten.
Ich bin ja durchaus nicht für "defund the police", im Gegenteil. Aber steckt bitte die Mittel in Menschen (bessere Bezahlung, weniger Überstunden, psychologische Betreuung, Debriefing, Expertise). Nicht in Militärgerät, Wasserwerfer und Taser.
Rudolf Fissner
@tomás zerolo "Insbesondere tatsächlich bei Aktionen der Klimabewegung."
Man sollte sich nicht hinter der Klimabewegung verstecken.
"der Klimabewegung", das geht doch sicherlich konkreter. War es Ende Gelände? War es die Interventionistische Linke al Maulwurf bei Ende Gelände? War es die Letzte Generation bei einer Nötigung?
Michas World
Mein Humor. Man blockiert illegal eine Straße und wundert sich dann, wenn die Polizei zu legitimen Mitteln des unmittelabren Zwangs greift. By the way, ich empfehle, sich einmal kurz mit der französischen Praxis zu befassen. Gemessen daran herrscht hier ein wahres Wohlfühlparadies für Blockierer.
Andreas J
@Michas World Blockierende Bauern wurden in ihrer Welt in dem Zwangsgriff genommen oder ist das nur exklusiv für Klimaschützer?
rero
@Andreas J Whataboutism hilft da nicht weiter.
Sitzblockaden haben die Bauern kaum genutzt.
Außerdem haben die sich typischerweise angemeldet.
Die Bauern haben die Polizei normalerweise nicht als ihre Feinde gesehen.
Selbst bei der Habeck-Fähren-Geschichte hat es eine kleine Gruppe von Polizisten geschafft, wohl mehr als 100 wütende Bauern an der Erstürmung der Fähre zu hindern.
Umgekehrt: Haben Sie mitbekommen, dass in den Niederlanden ein jugendlicher Bauer erschossen wurde?
"Aber die Bauern ..." bringt Sie nicht weiter.
Man müsste dann auch genauer hingucken, warum ER so wenig überzeugt.
Barnie
@Michas World Toller Humor....
Legitimes Mittel prinzipiell ja, die Frage ist nur die Verhältnismäßigkeit.
Bei passivem Widerstand sofort die härtesten Mittel zu wählen - dem gehört ein Riegel vorgeschoben.
Und dass es woanders noch schlimmer ist, ist kein Argument!
Troll Eulenspiegel
@Michas World Was sich manche französischen, italienischen oder US-amerikanische Polizisten leisten muss als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden.
Irm mit Schirm
@Michas World In Ihren Einlassungen verkennen Sie völlig, daß es 1. nicht klar ist, ob es sich, nur weil Sie sich darüber ärgern, eine illegale Aktion war, das wird von Gerichten durchaus unterschiedlich bewertet. . 2. ist die Polizei in diesem Rechtsstaat verpflichtet , die Verhältnismäßigkeit zu wahren, hier z.B. durch einfaches Wegtragen. Ich bezweifel daher stark, daß solches brutales Vorgehen der eingesetzen Beamten bei friedlichen Blockierern diesem Gebot entspricht. Und darauf zu verweisen, daß die französische Polizei noch brutaler ist, rechtfertigt noch lange nicht das Vorgehen der deutschen Polizei.
Regenschauer
Ich wiederhole mich in diesem Medium:
Einfach mal an Regeln und Gesetze halten und schon geht’s ganz einfach.
Wer nach mehrmaliger Aufforderung noch immer sitzen/liegen bleibt, darf nicht jammern, wenn die Exekutive dann ihren Job macht.
Und nebenbei: beim Einschreiten gegen „Gegner“ darfs gar nicht hart genug sein, fordern diejenigen, die jetzt weinen.
Andreas J
@Regenschauer Die Politik hat sich doch selbst nicht an ihre beschlossenen Klimagesetze gehalten. Also blockieren sie auch. Werden Politiker auch mit Schmergriffen weggetragen, nachdem sie sich nach mehrmaliger Aufforderung nicht bewegt haben?
Bleibt wohl nur zivilerer ungehorsam.
Erfahrungssammler
@Regenschauer Ich hoffe, dass Sie mit Ihrem zweiten Satz ALLE meinen, auch die, welche Regeln und Gesetze designen.
Michas World
@Regenschauer ... hätte ich nicht besser formulieren können ...