Weltmeister 1974: Keine Helden der Nation

1974 kam es zum Konflikt zwischen liberalen Kickern und NS-sozialisierten Funktionären. Der DFB tat sich mit der neuen Weltmeister-Elf schwer.

Das WM-Team von 1974 steht in einer Reihe zur Hymne aufgestellt, niemand singt.

Für Deutschland spielen? Und dann auch noch singen? Die 74er können sich Besseres vorstellen Foto: imago

Einige Tage vor dem Start der EM 2024 erklärt Kapitän İlkay Gündoğan, dass die Nationalelf nicht bereit sei, beim Turnier im eigenen Land aufzulaufen. Es sei denn, der DFB erhöhe die Prämien. Und Team-Bambi Musiala schlägt vor, auf die Nationalhymne zu verzichten. Mitsingen? Schon gar nicht!

Die Begeisterung nach dem Finalsieg fiel geringer aus als 1954. Nationalismus war nicht en vogue

Wäre dem so gewesen, wäre ein Sturm der Entrüstung durch das Land getobt. Von Robert Habeck bis Markus Söder wären sich alle einig gewesen: Geht gar nicht! Und Gündoğan und Musiala müssten vermutlich um Polizeischutz ersuchen.

Vor 50 Jahren, als die Männer-WM erstmals nach Deutschland kam, war dies anders. Die Elf von Bundestrainer Helmut Schön zählte als Gastgeber und amtierender Europameister zum engeren Kreis der Titelanwärter. Aber der Operation Titelgewinn drohte bereits das Aus, bevor sie überhaupt begann.

In Malente, wo der DFB-Tross unter starken Sicherheitsvorkehrungen in einer spartanischen Sportschule residierte – Franz Beckenbauer sprach von einem Gefängnis – hatten sich Spieler und Funktionäre heillos zerstritten.

„Angebot zum Lachen“

Es ging um die Prämie, zu der sich der DFB, so Berti Vogts, „zunächst gar nicht geäußert hatte“. Bis zum ersten Auftritt der DFB-Elf gegen Chile waren es nur noch acht Tage. Vogts: „Der DFB hat uns ein Angebot gemacht, das war zum Lachen. Das Angebot war 30.000 DM.“

Viel zu wenig, vor allem für die jungen Spieler. Namentlich Vogts Gladbacher Mannschaftskamerad Rainer Bonhof und die Bayern-Akteure Paul Breitner und Uli Hoeneß, opponierten. Die Spieler forderten 100.000 DM für den Titelgewinn, boten als Kompromiss 75.000 an.

Drohung lief ins Leere

Entschiedenster Gegenspieler der Mannschaft war der erzkonservative DFB-Delegationsleiter Heinz Deckert, ehemals Mitglied der NSDAP, nun mit dem Parteibuch der CSU unterwegs. Deckert, für den Spiegel der „Lagerleiter“ in der Sportschule, war noch geprägt vom „Wunder von Bern“, von der Mannschaft um Fritz Walter, die „durch das disziplinierte Auftreten […] unsere Heimat würdig vertreten“ habe.

Deckerts Funktionärskollege Hermann Neuberger stellte den Spielern frei, wieder nach Hause zu fahren. Für den autoritären Knochen, dessen Führungsstil das Wirtschaftsmagazin Capital als „Diktatur und lückenlose Überwachung seiner Mitarbeiter“ beschrieb, waren „Spieler zu ersetzen, Funktionäre nicht“. Aber die Drohung, bei der WM im eigenen Land mit einem B-Team aufzulaufen, lief ins Leere. Sepp Maier: „Außer von Werder Bremen hätten sonst keine guten Spieler nachnominiert werden können, da die meisten Klubs auf Freundschaftsreisen waren, in Amerika und in Asien. Der DFB war also auf uns angewiesen.“

Unterschied zwischen Idealismus und Betrug

Nach einem 15-stündigen Verhandlungsmarathon kam es zu einer Einigung. Berti Vogts: „Es gab es dann eine Summe von 60.000, und wenn die Stadien alle ausverkauft sind – sie waren nicht alle ausverkauft –, dann können wir später noch einmal sprechen. Vor dem Finale in München gab es noch mal ein Gespräch, da hat der DFB noch mal 10 oder 15 draufgetan.“

Die Generation Beckenbauer regis­trierte den Unterschied zwischen Idealismus und Betrug, zwischen Ehre und Ausbeutung, zwischen Ehrlichkeit und Scheinheiligkeit. Allein mit Parolen, die an Pflicht und Ehre appellieren, war diese Generation nicht mehr zu packen.

Keiner sang

Über sein Nationalmannschaftsdebüt am 16. September 1965 in Stockholm und den von Deckert verehrten Fritz Walter schrieb Beckenbauer später: „Ich merkte, dass wir doch ziemlich verschiedene Charaktere sind. Vielleicht ähnelte unsere Spielweise, unsere Technik einander; aber er glaubte an Kameradschaft und Nationalehre. Für mich ist eine Fußballmannschaft eine Interessengemeinschaft. Titel sind dazu da, dass sie gewonnen werden. Das ist für mich nicht nur ein sportliches Ziel, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.“

Beim Turnier sah man keinen einzigen Spieler die Nationalhymne mitsingen. Man schaute gelangweilt bis gequält in die Gegend. Der 22-jährige Breitner schimpfte sogar: „Diese Hymne vor den Länderspielen stört mich in der Konzentration!“

„Mehr Demokratie wagen“

Sucht man bei der WM 1974 nach einem roten Faden neben dem Spielfeld, dann stößt man auf den wohl größten und nachhaltigsten Generationenkonflikt in der deutschen Fußballgeschichte. Auf der einen Seite eine Funktionärskaste, die die nationalsozialistische Sozialisation und die folgende Adenauer-Zeit noch nicht abgelegt hatte. Auf der anderen Seite Kicker, die auf „mehr Demokratie wagen“ und Modernität drängten.

Nach dem Finalsieg über die Niederlande fiel die Begeisterung deutlich geringer aus als 1954. In den Jahren der sozialliberalen Entspannungspolitik war Nationalismus nicht en vogue, der Titelgewinn entfachte keine Leidenschaften. Was aber auch mit dem Prämienstreit zu tun hatte. „Helden der Nation“ wollten die Spieler auch nicht sein.

Der WM-Titel von 1974 war kein Projekt, das sich politisch ausbeuten ließ. Anders als das „Wunder von Bern“, das später zum wahren Gründungsdatum der Bundesrepublik verklärt wurde. Auch anders als der WM-Titel von 1990, der mit der Wiedervereinigung zusammenfiel und von einem schwarz-rot-goldenen Taumel begleitet wurde.

Kanzler Helmut Schmidt fiel es nicht im Traum ein, die siegreiche Mannschaft in der Kabine aufzusuchen. Die hemmungslose Umarmung durch die Politik begann erst unter seinem Nachfolger Helmut Kohl. Der WM-Titel bewirkte keine Versöhnung zwischen den Generationen. Der DFB tat sich viele Jahre schwer mit den Weltmeistern von 1974. Gefeiert und verehrt wurden die 54er und 90er.

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