Das Sackgassengefühl

Klima, Krieg, Rechtsruck, Betroffenheitspflicht, Debattenfeindlichkeit. All diese Krisen überfordern – und führen dazu, dass sich Politik oft nur um das Bewahren kleinerer Übel kümmert. Was kann daraus entstehen? Eine Bestandsaufnahme

Der Schatten einer Person auf einer Bau-Ruine

Kein Ausweg in Sicht? Zumindest fühlt es sich manchmal so an Foto: Fo­to: Emmanuel Pineau/plainpicture

Von Katharina Körting

Wir müssen mal wieder über Gefühle reden. Wenn nix mehr geht, geht es nicht anders. Ein Leser schreibt mir von seiner Verzweiflung, angesichts des Wissens um die katastrophale Lage. Das Schlimmste: Man weiß alles, und kann nichts machen! Psychologisch ausgedrückt: Es herrscht fataler Mangel an „Selbstwirksamkeitserwartung“. Was man auch tut, denkt, sagt – es ändert nullkommanichts an der Lage, und „man“ zu sagen, wenn man sich selbst meint, hilft auch nichts.

Die einen werden furchtbar vorsichtig, die anderen furchtbar aggressiv. Zu viele Probleme, zu viel auf einmal. Zu wenig Mut. Zu wenig Ehrlichkeit, zu wenig Kraft. Zu viele Krisen. Wobei Krise mal Höhepunkt meinte oder Wendepunkt einer Konfliktentwicklung, heute jedoch hört man bei dem Wort eine nicht endende, undurchschaubare, sich selbst ernährende, weltweite Gemengelage von Krieg, Krankheit, Zerstörung – totale Ausweglosigkeit.

Zum Beispiel Klima: Wir, Menschheit, Europäer, Deutsche, steuern sehenden Auges in unfassbares Leid hinein. Auch wenn wir, individuell oder gesellschaftlich, recyclen, keine Plastikgabeln mehr benutzen, die Heizung runterdrehen, das Auto stehen lassen, nicht mehr fliegen – es ist egal.

Noch das konsequenteste Handeln der Klimaaktivistin bleibt im Grunde ohne Konsequenzen. Warum sich also die Mühe machen?

Wo doch im Moment nicht nur in Gaza und in der Ukrai­ne mit Hilfe unserer Waffenlieferungen und Durchhalteparolen dem Klima immense Kriegsschäden zugefügt werden, die kein Milliardenaufbauprogramm wiedergutmachen kann.

Zum Beispiel Krieg: Wir, Westliche-Werte-Inhaber, verlängern das Sterben, nennen es Widerstand, Freiheitskampf etc. und haben keine Ahnung, wohin das alles führen soll oder wie man vom hohen Ross wieder runterkommt und mit dem üblen Angreifer sich an den hässlichen Tisch setzt.

Dass Russland besiegt werden kann, glaubt wohl nicht mal der ukrainische Präsident. Aber nun sind Gesichter zu verlieren, und es bleibt bei der mohrrübenartig vor die Esel gehaltenen, maximal zu optimierenden „Verhandlungsbasis“ der Ukraine.

Netter Gedanke, aber hinter dem netten Gedanken sterben täglich nette Menschen, auch wenn sie, mit russischem Pass, für ukrainische Soldaten keine sind: „Wir töten keine Menschen, wir töten den Feind“, heißt es – unproblematisiert – in einer der unzähligen Deutschlandfunk-Reportagen über den Durchhaltewillen der brutal Angegriffenen.

Zum Beispiel „Rechtsruck“: Der Bundeskanzler versichert, man dürfe nach der EU-Wahl nicht so weitermachen wie vorher: „Keiner ist gut beraten, der jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen will“ – um dann ­exakt das zu wollen.

Auf dem G7-Gipfel der Angeschlagenen schäkert er mit Italiens Ministerpräsidentin Meloni, als wäre nichts gewesen, während EU-von-der-Leyen mit Hilfe von Postfaschisten ihre Macht sichern will und gewiss auch das wieder mit der „Verteidigung unserer Werte“ verkaufen wird.

Als gingen diese ohne diese CDU-Kommissionspräsidentin unweigerlich den Bach runter. Dabei es geht wohl genau darum in Wahrheit: ums Verkaufen, von sich selbst und allen anderen. Kaum jemand fragt öffentlich, wie sehr gerade eine von der Leyen „unsere Werte“ schleift.

Zum Beispiel Betroffenheitspflicht: „diese seltsame deutsche Fähigkeit, unter den Krisen und Kriegen der Welt fast noch mehr zu leiden als die direkt Betroffenen“ hat Jochen-Martin Gutsch mit komischer Verzweiflung im Spiegel konstatiert. Als hätten Deutsche nur als Leidens-Streber, als Klassenbeste im Betroffensein ein Rede- und Daseinsrecht – und müssten deshalb auch den Fußball mit jedem Schuss zum Statement gegen Rassismus, Kolonialismus, Frauen-, Queer- und Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus und so weiter zwingen. Jede kleine – unpolitische – Freude muss sich hierzulande erst mal des Verdachts erwehren, nicht politisch korrekt zu sein – und schon ist sie futsch.

Zum Beispiel linke Debattenfeindlichkeit: Wo manche noch fragen, ob man mit Rechten reden soll, und wenn ja wie und mit welchen, gibt es nicht wenige, die ganz offen Debattenfeindschaft als progressiv propagieren, etwa in Reden von Carolin Emcke.

Die Moralpublizistin ruft – unter jubelndem Applaus – „dringend“ dazu auf, an Pro-und-kontra-Öffentlichkeit nicht mehr teilzunehmen: „Es wird uns beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, gleichermaßen vernünftige, einander widersprechende Positionen“, das sei „Bullshit“. In verblüffender Undifferenzierung sieht die Philosophin in einem ohnehin bedrohten journalistischen Genre – Debatte – pauschal „eine systematische Zerstörung von vernünftigem, rationalem, differenziertem Diskurs“. Und will es abschaffen.

Zu allem Überfluss wird wohl demnächst ein Zig-Milliardenloch-Haushalt beschlossen, der an allem spart, außer am Militär. Das nervt ja sowieso: die Unlogik in der Militarisierungsverkaufe. Wir seien nicht „kriegstüchtig“, befindet der Verteidigungsminister. Was ja schon mal nicht so schlau ist dem „Feind“ unter die Nase zu reiben. Dann aber doch keine Wehrpflicht zu machen und weiterzuwursteln, als würde der „Feind“ warten, bis man bereit ist.

Wenn man glaubt, dass die Russen spätestens übermorgen gegen die Nato marschieren – müsste man dann nicht sofort handeln? Und wenn man nicht wirklich dran glaubt oder, besser noch, alles tun will, um den heißkalten Vorkrieg zu beenden, all das Geld für Sinnvolleres ausgeben? Kriegsvermeidung zum Beispiel. Demokratiestärkung. Tiktok-Entblödung. Entprofitisierung von Medizin, Energie, Wissenschaft, Deutscher Bahn. Bildung first – solche Sachen.

Doch es scheint ewig Gestrigen wie „Progressiven“ nur noch ums Bewahren von monströs großen kleinen Übeln zu gehen. Sie nennen es Wohlstand, Freiheit, Sicherheit, aber sie denken nicht mehr gestalterisch. Europa soll demokratisch bleiben, forderten Parteien im EU-Wahlkampf, oder schlicht „gegen rechts“. Leider motiviert höchstens fürs Rechtswählen, wer verschleiert, wie sehr es bei der ­Demokratie- und Weltrettung eben auch um Selbstdarstellung und die Rettung eigener Privilegien geht.

Als hätten Deutsche nur als Leidens-Streber ein Daseinsrecht

Wo so viele Lügen und scheineinfache Wahrheiten in Umlauf sind, ist nicht nur das Handeln blockiert, auch das Denken.

Solche Kommunikation führt zu einem leeren „Weiter so“ auf der Seite der Medien- und Polit-Karrieristen – und zur Resignation der von ihnen Beschallten. Oder, und ich weiß nicht, ob das schlimmer oder besser oder im Grunde dasselbe ist, zu einer sozusagen postmarxistischen Sehnsucht nach dem Nochschlimmeren, nach dem Zusammenbruch, und sei es nur der Ampel.

Damit es zwar dann erst mal noch übler, aber danach irgendwann endlich auch wieder wirklich besser, nämlich anders werden kann: weg von neoliberally brainwashing angefeuerten militaristischen Aporien, weg vom vermeintlich einzig fortschrittlichen Wachstumswahn, weg von einer rosaroten Linken, die sich immer feiner zersplittert und nicht mal mehr versucht, eine Vision zu entwerfen. Da scheint, ganz unfortschrittlich, Rückwärts erstmal das neue Vorwärts: Wie geht es (uns) besser? Wie wollen wir (über)leben? Und was müssen wir dafür tun?

Die Autorin ist Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt