Debatte um 7. Oktober: Vernunft statt falscher Gewissheit

Die Politologin Saba Nur-Cheema und der Historiker Meron Mendel haben in Berlin über den 7. Oktober diskutiert – mit richtigen Argumenten.

Blick auf die Bühne mit Saba Nur-Cheema, Eva Illouz und Yassin Musharbash auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele

Konstruktion gefordert: Saba-Nur Cheema, Eva Illouz und Yassin Musharbash auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele Foto: Ali Ghandtschi

Versöhnung heißt verzeihen, teilen und eine gemeinsame Erzählung finden“, sagt Iyad al-Dajani. Klingt einfach, ist es aber nicht. Wer sich für Versöhnung einsetzt, müsse stark und mutig sein, er oder sie müsse sich auf Angriffe gefasst machen. Al-Dajani stammt aus einer alteingesessenen Jerusalemer Familie. Einer seiner Vorfahren, Hassan Sidqi al-Dajani, habe sich vor knapp hundert Jahren mit den Führern der zionistischen Bewegung geeinigt, auf die Gründung eines gemeinsamen jüdisch-arabischen Staats hinzuarbeiten, und sei daraufhin auf Geheiß von Mohammed Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, der mit den Nazis kollaborierte, ermordet worden.

Unter Historikern ist umstritten, wer den Mord beauftragte, sicher ist aber, dass Hassan Sidqi al-Dajani innerpalästinensischer politischer Gewalt zum Opfer fiel. Sein Nachfahre sprach während der Thementage „Reflexe & Reflexionen. Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatte in Deutschland“ im Haus der Berliner Festspiele über Versöhnung als transformative Praxis. Er forscht am Jena Center for Reconciliation Studies.

Die Thementage brachten das Problem bereits in ihrem Titel auf den Punkt. Die Reaktionen auf das genozidale Massaker der Hamas und die massive Bombardierung Gazas mit vielen zivilen Toten und die prekäre humanitäre Lage im Gazastreifen waren und sind bei vielen vor allem reflexhaft oder bleiben aus, während es an faktengesättigten Reflexionen und plausiblen Argumenten mangelt.

Die Thementage schlugen hier nun einige Pflöcke ein, um Mythen, Parolen und Verkürzungen durch Kritik und Analyse auf Grundlage historischer und politischer Kenntnisse den Boden zu entziehen, um Dialog überhaupt erst zu ermöglichen. Ob dieses begrüßenswerte Forum der Vernunft die Debatte in Deutschland am Ende vernünftiger machen wird, ist eine andere Frage. So manche ungehaltene mimische Reaktion seitens des Publikums auf recht banale Klarstellungen lässt Zweifel an der Macht plausibel vorgetragener Argumente aufkommen.

Guter Gemütshaushalt, mangelnde Solidarität

Dabei war doch seitens verschiedener Red­ne­r*in­nen darauf hingewiesen worden, dass reflexhaftes Verhalten zwar den eigenen Gemütshaushalt stabilisieren mag, aber oft recht brutale Folgen für andere hat. Für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland am schmerzlichsten waren die Erfahrungen von mangelnder Solidarität nach dem 7. Oktober. Viele Palästinenserinnen und Palästinenser und ihre in Deutschland geborenen Kinder und Enkel verspürten ein Gefühl der Ausgrenzung durch Politik und Gesellschaft und haben den Eindruck, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Antisemitische Gewalt und Hetze nahmen in den vergangenen Monaten stark zu, zugleich gingen die Behörden oft autoritär und mit juristisch fragwürdigen Mitteln gegen Proteste ­gegen den Krieg in Gaza vor.

Dennoch seien die Thementage kein Safe Space, sagte Meron Mendel, der sie gemeinsam mit seiner Frau Saba-Nur Cheema kuratiert hat. Er ist jüdisch, wurde in Israel geboren, sie ist muslimisch und kam in Frankfurt am Main zur Welt. Dissens müsse ausgedrückt werden, forderte Mendel und gab gleich eine Triggerwarnung ab: Es würden möglicherweise Worte fallen, die manche provozieren könnten. Er und seine Frau hätten auch nicht gegoogelt, ob Teil­neh­me­r*in­nen irgendwelche Petitionen unterschrieben hätten.

Einzige Bedingung für eine Einladung sei die Bereitschaft gewesen, andere Meinungen anzuhören. Die „Gesinnungsprüfungen“ müssten aufhören, meinte er unter Beifall im ausverkauften großen Saal im Haus der Berliner Festspiele am Donnerstag. Das Publikum war durchweg still und aufmerksam, Störungen gab es keine.

Die Antwort auf Boykottbewegungen müsse mehr Gespräch sein, sagte Saba-Nur Cheema. Die Zivilisten im Nahen Osten brauchten keine Likes in den sozialen Medien, sondern unsere Solidarität. Mendel ergänzte, dass es darum gehen müsse, die friedlichen Akteure in der Region zu unterstützen. Einige solcher Akteure wurden eingeladen, um über ihre Arbeit zu berichten. Neben dem Versöhnungsforscher Iyad al-Dajani waren darunter etwa Avital Benshalom, die eine bilinguale hebräisch-arabische Schule in Beer Sheva im Süden Israels leitet, und Mohammad Darawshe, der Leiter des Givat-Haviva-Bildungszentrums für jüdisch-arabische Verständigung.

Vorab übernahm die in Marokko geborene französisch-israelische Soziologin Eva Illouz die Aufgabe, einige falsche Grundannahmen im Sprechen über den Konflikt kritisch einzuordnen. Sie wandte sich gegen die weit verbreitete These, Israel sei ein koloniales Projekt. In den 1950ern sei Israel ein Land von Flüchtlingen aus europäischen und arabischen Ländern gewesen.

Dennoch sei die Kritik an der Realität der Besatzung des Westjordanlands und dortiger kolonialer Praxis durch israelische Siedlungspolitik kein Ausdruck von Antisemitismus. Dieser zeigt sich jedoch deutlich im Programm der Hamas. Die Terrororganisation propagiere den Kampf gegen Juden weltweit, was jedoch bewusst von Teilen der intellektuellen Linken ignoriert werde.

Die antizionistische Propaganda Stalins

Die Debatte sei von Verwirrung geprägt, meint Illouz. Viele hätten schon ein Problem damit, anzuerkennen, dass es in einem Konflikt wie diesem nicht nur ein, sondern zwei Opfer geben­ könne. Sie kritisierte die „bizarre“ Behauptung, die Shoah sei ein Signifikant des „Weißseins“, und wies darauf hin, dass die Idee, Israel sei ein Projekt des westlichen Imperialismus, in einer direkten Linie auf die antizionistische Propaganda Stalins zurückgehe.

Während Illouz die Debatte theoretisch unter die Lupe nahm, widmete sich Yassin Musharbash, der als Journalist für Die Zeit arbeitet und dessen Vater in Jordanien geboren wurde, ihren persönlichen und politischen Komponenten. Die Debatte zeichne sich durch falsche Gewissheiten aus. Er habe keine Lösungen anzubieten und mehr Fragen als Antworten. Musharbash beklagte eine Tendenz zur „absurden Übersimplifizierung“ bestimmter Aspekte des Nahostkonflikts. Nicht jede Information müsse sofort als argumentative Munition benutzt werden. Es sei manchmal okay, von etwas berührt zu sein, ohne dazu sofort eine Position einnehmen zu müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben