Ukraine-Fans bei EM 2024: Die Powerbanks sind aufgeladen
Die Ukraine kann der Welt bei der EM zeigen: Wir leben, wir kämpfen, wir gewinnen. Ihre Fans müssen schwierigen Bedingungen trotzen.
Die Menschen in der Ukraine glauben an ihre Nationalmannschaft. Kein Wunder. Sie sind die „Golden Boys“, eine besonders talentierte Generation, etliche von ihnen sind Stammspieler bei den ganz großen Vereinen in Europa. Doch es geht um mehr als um Fußball. Für das vom Krieg zerrissene Land ist die Teilnahme an einem solch großen Sportereignis eine Plattform, um der Welt zu sagen: Wir leben, wir kämpfen und wir gewinnen. Auch für die Olympischen Spiele in Paris haben sich die ukrainischen Fußballer qualifiziert. Zum ersten Mal überhaupt.
Schon einmal wurde eine ukrainische Nationalmannschaft als „Golden Boys“ in ein Turnier geschickt – zur Europameisterschaft 2016. Die Erwartungen waren damals hoch. Die Generation um Andrij Jarmolenko und Jewhen Konopljanka sollte zumindest eine Medaille aus Frankreich mitbringen. Daraus wurde nichts.
Auch dieser Tage trauen die Fans in der Ukraine ihrer Mannschaft viel zu. Doch längst nicht alle Ukrainer*innen werden die Möglichkeit haben, die Spiele anzuschauen. Wegen der regelmäßigen Stromabschaltungen werden Bildschirme dunkel bleiben. In diesem Frühjahr haben die Russen drei große Raketenangriffe auf den Energiesektor durchgeführt. Die Behörden haben die Zerstörung auf bis zu 40 Prozent der Energiekapazität beziffert. Eine schnelle Reparatur ist nicht möglich.
Dazu kommt, dass im Sommer ganze Kernkraftwerk-Blöcke für Reparaturen abgeschaltet werden müssen. Obwohl der Spitzenverbrauch im Herbst und Winter zu verzeichnen ist und nicht jetzt, wurden Anfang Mai in der Ukraine detaillierte Stromausfallpläne eingeführt. Meistens wird das Licht abends ausgeschaltet – da laufen viele Spiele.
Gebete an die Energieversorger
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und selbst wenn der Strom fließt, wird man die späten Begegnungen nicht in Ruhe in den Kneipen verfolgen können. Die Ausgangssperre beginnt in den meisten Städten der Ukraine um 23 Uhr, lange vor Schlusspfiff. In diesem Sinne hat die Ukraine mit den Spielen in der Gruppenphase Glück – sie finden nachmittags statt. Die Spiele gegen Rumänien und die Slowakei werden um 16 Uhr ukrainischer Zeit angepfiffen (15 Uhr MESZ), das finale Gruppenspiel gegen Belgien um 19 Uhr.
Sollte das ukrainische Team weiterkommen, die Spiele gar in die Verlängerung gehen, müssten sich Fans über die Ausgangssperre hinwegsetzen. Zusätzlich müssen alle mit Luftangriffen rechnen. Die Ukrainer*innen haben mittlerweile gelernt zu unterscheiden, welche Angriffe eine größere oder geringere Bedrohung darstellen. Millionenstädte wie Charkiw, Dnipro, Saporischschja oder Odessa stehen fast täglich unter russischem Beschuss. So geschehen am 23. Mai in Charkiw, als russische Flugzeuge mehrere Bomben auf ein großes Einkaufszentrum abwarfen. 19 Menschen kamen ums Leben, 55 wurden verletzt.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Behörden und der nationale Fußballverband selbst in frontfernen Städten vorerst keine Pläne zur Einrichtung von Fanzonen für Public Viewing haben, wie dies bei der Heim-EM 2012 oder den Turnieren 2016 und 2021 der Fall war. Vielen Fans bleibt daher nur die Möglichkeit, ihre Powerbanks aufzuladen, Orte aufzuspüren, in denen die Spiele übertragen werden, sowie Gebete an die Energieversorger zu richten, auf dass zumindest während der Spiele der ukrainischen Nationalmannschaft ausreichend Elektrizität vorhanden sei.
Für die Ehre des Landes
Für viele ist das überaus wichtig. Denn auch nach dem Überfall Russlands auf ihr Land verfolgen die Ukrainer*innen alles mit großem Interesse, was mit ihrer Nationalmannschaft zu tun hat. Die hat seit November 2021 kein Match mehr auf ukrainischem Boden bestritten. Ihre sogenannten Heimspiele trugen die Blau-Gelben aus Sicherheitsgründen im Ausland aus. Meist in vollen Stadien in Polen und Deutschland, wo viele Ukrainer*innen Zuflucht vor dem Krieg gesucht haben.
Die Übertragungen dieser Spiele im ukrainischen Fernsehen waren sowohl im Hinterland als auch an der Front große TV-Ereignisse. Millionen Menschen haben verfolgt, wie die Auswahl im Sommer 2022 die Qualifikation zur WM in Katar knapp in den Play-offs verpasst hat. Umso größer war der Jubel Ende März dieses Jahres, als die Ukraine erneut in den Play-offs stand, dieses Mal jedoch dank unfassbarer Willenskraft gegen Bosnien-Herzegowina und Island jeweils mit 2:1 gewann.
Nun bereitet sich das Team auf seinen Kampf vor – so wie es die Soldaten an der Front jeden Tag tun. Die Spieler von Trainer Serhij Rebrow sind von ihren Fähigkeiten überzeugt und reisen nach Deutschland, um für die Ehre des Landes zu spielen.
Wir müssen weiterkommen
Der Trainer ist dabei zweifellos der Motor des Teams. Der 49-Jährige kehrte vor einem Jahr mit seiner Familie in die Ukraine zurück. Rebrow hätte in den Vereinigten Arabischen Emiraten bleiben können, wo er den Erstligisten al-Ain trainierte. Doch seit 2022 engagiert er sich für die finanzielle Unterstützung der Armee und betont auf jede erdenkliche Weise: Das ganze Land befinde sich im Krieg. Und die Fußballspieler sollten nicht vergessen, wem sie die Möglichkeit verdanken, das zu tun, was sie lieben. „Ich persönlich werde weiterhin der Armee und den von der russischen Aggression betroffenen Menschen helfen. Ich bin froh, dass ich in die Ukraine zurückgekehrt bin und für unseren Staat arbeiten werde. Auch meine Familie ist zurückgekehrt“, sagte Serhij Rebrow im Juni 2023.
Jetzt sind seine Trainerqualitäten gefragt. Er weiß, wie er das Spiel an die Fähigkeiten der Kicker anpassen muss, die ihm zur Verfügung stehen. Absoluter Hingucker der Mannschaft ist sicher Artem Dowbik vom FC Girona, Torschützenkönig in der angelaufenen Saison in der spanischen Primera Division, noch vor Robert Lewandowski und Jude Bellingham. Auch an den Qualitäten von Andrij Lunin, dem Torwart von Real Madrid, bestehen keine Zweifel. Und dann gibt es da noch ein Supertalent: Heorhij Sudakow, den erst 21-jährigen Spielmacher von Meister Schachtjor Donezk.
Im Wissen um die Stärke der Mannschaft hat man die Auslosung, die der Ukraine die Gruppengegner Belgien, Rumänien und die Slowakei beschert hat, ohne große Aufregung aufgenommen. Der Tenor ist eindeutig: Wir müssen weiterkommen.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!