: Nein stürzt Regierung in tiefe Krise
Nach der Ablehnung der EU-Verfassung kündigt Präsident Jacques Chirac Umbildung der Regierung an. Die Abberufung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin gilt als sicher
PARIS taz ■ Jacques Chirac, der das Referendum initiiert hatte, ist am Tag nach dessen Scheitern das erste Opfer seiner mutigen Geste geworden. Selten war ein französischer Staatspräsident so von seinem Volk isoliert. Und Chirac hätte man das am wenigsten zugetraut. Noch vor drei Jahren war er unter historischen Umständen – im Duell gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen – mit sage und schreibe 82 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Eine wegen seines fortgeschrittenen Alters ohnehin fragwürdige neuerliche Präsidentschaftskandidatur von Chirac im Jahr 2007 ist vor dem Hintergrund des Referendums noch unwahrscheinlicher.
Eine halbe Stunde nach Verkündung des Wahlergebnisses trat Chirac am Sonntag die Flucht nach vorn an: „Ich werde die Franzosen beim EU-Rat im Juni in Brüssel vertreten“, sagte er. Wie er, der noch wenige Tage zuvor die von den Franzosen abgelehnte EU-Verfassung als einzige Möglichkeit verteidigt hatte, die künftige Europapolitik Frankreichs gestalten will, verriet er nicht.
Ebenfalls am Wahlabend kündigte er den Austausch der unpopulären Regierung Jean-Pierre Raffarin an. Dessen Nachfolger als Premier will er heute präsentieren. Seinen eigenen Rücktritt und/oder eine Auflösung der Nationalversammlung, wie vor allem rechte und rechtsextreme Non-Sager ihn schon am Wahlabend lautstark forderten, lehnte Chirac ab.
Bei der letzten Kabinettssitzung der Regierung in der alten Zusammensetzung saßen gestern Vormittag zwei Kandidaten für den Chefposten beieinander: Innenminister Dominique de Villepin, der seit seinem Auftritt im Weltsicherheitsrat gegen den Irakkrieg international einen guten Ruf hat, und Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie, die als verlässliche Parteisoldatin von Chiracs UMP gilt. Ein dritter Kandidat für den Posten hatte sich bereits am Wahlabend zu Wort gemeldet. UMP-Chef Nicolas Sarkozy, der in den eigenen Reihen gegen Chirac kämpft, kündigte am Wahlabend an, er werde dem Staatspräsidenten zur Seite stehen, dabei jedoch seine „Freiheit“ bewahren. Den Fragen der Journalisten stellte sich Sarkozy, der für ein Oui gekämpft hatte, nicht.
Bedeckt hielt sich am Wahlabend auch PS-Chef François Hollande. Zusammen mit der fast kompletten Parteispitze war er für ein Oui eingetreten. Die Genossen aus den eigenen Reihen, die gegen die Parteispitze eine Kampagne für ein Non gemacht haben – darunter auch Parteivize Laurent Fabius –, stellte Hollande in eine Reihe mit Rechtsextremen. Gestern, am Tag nach der Niederlage, nannte er ihre Alleingänge einen „schwer wiegenden Akt“, der Konsequenzen haben müsse. Am Samstag dieser Woche wird der Nationale Rat der PS zusammentreten. Die Parteilinken, die ohne PS-Logo eine Kampagne für ein Non gemacht haben, wollen sich in der kommenden Zeit politisch weiter den radikalen Linken annähern, die ebenfalls für das Non warben. Die Verfassungsbefürworter hingegen favorisieren die Zusammenarbeit mit den Grünen. Deren Führung hatte im Referendum ebenfalls auf einen Sieg des Oui gesetzt.
Unklarheit herrscht über die Absichten des sozialistischen Parteivizes Fabius. Er hatte keine öffentliche Kampagne gemacht, aber er machte in Interviews keinen Hehl aus seinem Festhalten am Non. Viele Sozialisten – aber auch radikale Linke – werfen Fabius vor, er wolle versuchen, seine eigene politische Karriere im Windschatten der erfolgreichen Verfassungskritik zu befördern. Insbesondere seine Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2007.
DOROTHEA HAHN
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