Theaterstück über eine jüdische Familie: Ducken lernen ohne Ende

Das Stück „Parallax“ von Kornél Mundruczó verhandelt auf den Festwochen Wien Fragen der Identität und der Verfolgung über drei Generationen in Ungarn.

In einer Küche sitzt ein junger Mann nur mit Unterhose gebeugt auf einem Stuhl, ein Frau lehnt sich über den Tisch zu ihm herüber

Mutter und Sohn in „Parallax“ von Kornél Mundruczó bei den Wiener Festwochen Foto: Nurith Wagner-Strauss

Wenn man über den Daumen peilt, ihn über den ausgestreckten Arm mal mit dem linken, mal mit dem rechten Auge fixiert, scheint er vor dem Hintergrund hin- und herzuspringen bzw. dieser hinter ihm, wie man’s nimmt. Beim durchschnittlichen Verhältnis von Armlänge und Augenabstand beträgt der Winkel beider Sichtlinien etwa sechs Grad. Mit der Parallaxe lassen sich Entfernungen gut schätzen. Aber auch wenn man nichts von ihr weiß, hilft sie dabei, nicht durch die Welt zu stolpern. Auge und Hirn verarbeiten ihre Daten zu räumlichem Sehen.

Von der veränderten Sicht auf ein und dasselbe, aber auch vom Stolpern durch die Welt über drei Generationen handelt „Parallax“, das neue Stück des ungarischen Theatermachers Kornél Mundruczó und der Autorin Kata Wéber. Die internationale Koproduktion des von dem Regisseur gegründeten ungarischen Proton Theaters hatte bei den Wiener Festwochen Premiere, wird unter anderem in Genf, Mailand, Paris, Epidaurus, im HAU in Berlin und auf Kampnagel Hamburg zu sehen sein.

Der Container auf der Bühne ist zunächst noch verschlossen, die Front hat kleine Fenster, durch die sich aber nicht wirklich etwas erblicken lässt. Dahinter befinden wir uns in einer Küche im Jahr 2013 irgendwo in Budapest, was sich auf seitlich angebrachten Projektionsflächen in Erfahrung bringen lässt, sie spielen Videobilder aus dem Innern ein.

Éva (Lili Monori), eine alte Frau mit offen getragenen weißen Haar, schlurft im Morgenmantel mit einer Tasse zum Spülbecken, aus der vibrierenden Armatur kommt nur ein stotternder Strahl. Irgendwer hat das Wasser abgestellt, sie setzt sich hin, ihre Hände zittern, stellt die Tasse ohne Wasser nur mit Teebeutel in die Mikrowelle, setzt sich wieder hin, zittert mehr. Die vorhandenen Hintergrundgeräusche steigern sich zur Kakofonie.

Paranoia im Spätstalinismus

Ihre Tochter Léna (Emőke Kiss-Végh) kommt herein, nimmt die Tasse aus der Mikrowelle, hält sie der Mutter mit einer Geste des Vorwurfs hin, dreht am Küchenradio den Ton ab. Éva sollte längst angezogen sein, als Überlebende des Holocaust später eine Ehrenmedaille erhalten. Sie hält nichts davon. Durch Zufälle, gefälschte Papiere, blondes Haar, und blaue Augen ist sie mit ihrer Mutter der Vernichtung entgangen.

Nach der Befreiung folgte keineswegs die Freiheit. Die Mutter hatte ihr Auskommen als Ärztin, aber Arzt und jüdisch ist in der Paranoia des Spätstalinismus eine gefährliche Kombination. Éva wurde später Museumsdirektorin, ist aber in allen Lebenslagen bedacht, das Profil niedrig zu halten.

Léna hat die Geschichte tausendfach gehört, kennt das Leiden einer zweiten Generation, die mit den Traumata ihrer Eltern aufwachsen. Sie ist gekommen, dem zu entfliehen, eine Generation später die Friedensdividende endlich abzuholen, nach Berlin zu ziehen.

Ihr Sohn Jonas soll auf eine jüdische Schule gehen, dazu braucht sie als Identitätsnachweis Évas Geburtsurkunde. Die will in keiner Liste aufscheinen, noch nicht mal bei der jüdischen Gemeinde. Éva verlässt die Küche, hinterlässt Spuren ihrer Inkontinenz, Léna wischt ihr notdürftig hinter.

Einbruch des Surrealen

Plötzlich schießt Wasser aus der Klimaanlage, der Decke, den Küchenschränken, scheint Léna regelrecht zu durchströmen und fortzutragen. Mundruczo bricht seinen prügelharten Bühnennaturalismus mit ebenso schneidenden surrealen Einschüben.

Im zweiten Bild, Jahre später, kommt der erwachsene Jonas (Erik Major) in Großmutters unveränderte Küche. Es ist der Tag ihrer Beerdigung. Schwul, aber dennoch von unklaren Fragen der Identität umgetrieben, fühlt er sich einsam, ruft einen Lover an, der gleich mit seiner ganzen Clique in der Küche antritt.

Lustig soll’s werden, mit Musik, ein paar Drogen und fortschreitenden sexuellen Handlungen rund um Omas antiken Küchentisch. Der hastige Spaß will sich nicht einstellen, es kommt zum großen Knall. Keine Selfies! Einer hat Frau, Kinder, einen Posten im Ministerium und obendrein seinen Lover, einen Uni-Dozenten, in unguter Weise in der Hand.

Eigentlich haben sie sich nichts zu sagen, die Verarbeitung der familiären Traumata ist auch in der nächsten Generation gescheitert

Die Party ist vorbei, das Ducken müssen in der „illiberalen Demokratie“ von Orbáns Ungarn verzerrt die Züge. Léna kommt zurück, findet ihren Sohn nackt und embryonal eingehüllt im Totenhemd seiner Großmutter. Eigentlich haben sie sich nichts zu sagen, die Verarbeitung der familiären Traumata ist auch in der nächsten Generation gescheitert. Sie steckt ihn in den Beerdigungsanzug, stopft Papier in seine zu großen geliehenen Schuhe und nimmt ihn mit zur Beerdigung.

In einem Finale sammeln sich alle, inklusive der Verstorbenen zu einem somnambulen Tanzensemble. Was könnte die Botschaft sein? Wenn der Neoliberalismus, wie in Ungarn, die vereinzelt Einzelnen der Konkurrenz in allen Lebensbereichen aussetzt, dann lasst sie wenigstens in ihrem sichtbaren persönlichen Leben in Ruhe mit euerm patriarchalen Familienbild, Queerfeindlichkeit und anderem christlich-abendländischen Scheiß.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.