: Verdrehte Anwürfe
Salvador Allende war weder Antisemit noch Rassist: Diesbezügliche Behauptungen Víctor Farías’ halten einer Überprüfung nicht stand
VON BERND PICKERT
Es ist die Geschichte eines Rufmordes, der funktioniert hat. Alle Medien, auch die taz, haben darüber berichtet: Salvador Allende, die Ikone des chilenischen Weges zum Sozialismus, der erste frei gewählte Marxist der Welt, war ein Rassist und Antisemit. So behauptet es der am Berliner Lateinamerika-Institut lehrende Privatdozent Víctor Farías in seinem im März in Chile erschienenen Buch „Salvador Allende. Antisemitismo y Eutanasia“. Farías gibt an, die „lange verschollene“ Doktorarbeit Allendes aus dem Jahr 1933 zum Thema „Mentale Hygiene und Verbrechen“ wiederentdeckt und darin jede Menge Hinweise auf rassistisches, antisemitisches und letztlich nationalsozialistisches Gedankengut bei Allende gefunden zu haben. Außerdem habe Allende als Gesundheitsminister 1938 bis 1941 einen Gesetzesentwurf für Zwangssterilisierungen erarbeitet, der allerdings von der Ärzteschaft zurückgewiesen worden sei. Und schließlich, Kulminationspunkt von Farías Argumentation, habe Allende auch noch den Naziverbrecher Walter Rauff, Erfinder der Gaslastwagen zur Ermordung von Juden in Deutschland, vor dem Zugriff der internationalen Justiz geschützt und die Bitte um Auslieferung durch den Nazijäger Simon Wiesenthal schroff zurückgewiesen.
Seit Farías’ Behauptungen vor einigen Wochen auch durch die deutsche Presse gingen, scheint der Ruf Allendes zerstört. „Man ist betroffen,“ sagt etwa Wolfgang Nickel vom Team des Salvador-Allende-Hauses, einer Bildungseinrichtung der sozialistischen Jugendorganisation SJD –Die Falken in Oer-Erkenschwick. Er will allerdings erst einmal abwarten, ob sich die Vorwürfe erhärten. Unterdessen fordert Farías in Berliner Lokalmedien sogar, die nach Allende benannte Straßen der Hauptstadt umzubenennen, und zwar mit der Begründung, dass, wenn es in Berlin eine Goebbels-Straße gäbe, man diese schließlich auch umtaufen würde.
Die Kritikblase dürfte jedoch schnell zerplatzen – und am Ende steht eine Neubewertung nicht der Person Salvador Allendes, sondern des Wissenschaftlers Víctor Farías an. Die spanische Fundación Presidente Allende hat in Absprache mit der Familie Allende inzwischen die gesamte Doktorarbeit ins Netz gestellt (www.elclarin.cl/hemeroteca.html). Es zeigt sich: Jene Zitate, mit denen Farías den Antisemitismus Allendes zu beweisen sucht, geben keinesfalls dessen Denken wieder, sondern verweisen lediglich auf einen der wichtigsten Vertreter jener Denkrichtung der medizinischen Kriminalitätsforschung zu „kollektiven Verbrechen“, die Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus auf Resonanz stieß: den Italiener Cesare Lombroso (1835–1909). In einem Absatz der gut 150 Seiten umfassenden Doktorarbeit gibt Allende die Ansichten von Lombroso wieder. Der schrieb: Zigeuner, manche arabischen und indischen Stämme seien von Natur aus Verbrecher, und „die Juden charakterisieren sich durch bestimmte Formen von Verbrechen: Betrug, Falschheit, Verleumdung und vor allem Wucher“. Aus der Tatsache, dass dieser Satz als Zitat in Allendes Arbeit steht, zimmert Farías den Antisemiten Allende. Was der allerdings von diesen Zuschreibungen Lombrosos hielt, machte er in derselben Arbeit mehr als deutlich: Er beschäftigte sich keine Zeile weiter damit, sondern endete den Absatz mit der schlichten Feststellung, er verfüge über keinerlei Daten, die diese Zuschreibungen bestätigen würden.
Stattdessen setzt sich Allende kritisch – wenn auch aus heutiger Sicht nicht kritisch genug – mit den verschiedenen Versuchen der zeitgenössischen Wissenschaft auseinander, einen Zusammenhang zwischen bestimmten Krankheitsbildern und der Anfälligkeit für Verbrechen herzustellen. Recht deutlich wird, dass ihm bei der Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Alkoholismus, Tuberkulose, Drogenmissbrauch und Kriminalität dämmert, dass es sich dabei um soziale Phänomene handelt. Zwar hält auch der damals 25-jährige Allende bestimmte kriminelle Neigungen für nicht therapierbar, doch setzt sich seine Arbeit vor allem für eine bessere medizinische Betreuung der „Kranken“ ein, auch für besser ausgebildetes Personal in den Haftanstalten.
Aus heutiger Sicht vertritt die Arbeit etliche dem Zeitgeist zuzuschreibende Positionen – ein Beweis für den Rassisten und Antisemiten Allende aber ist sie nicht. „Verschollen“, wie Farías behauptet, war sie im Übrigen auch nicht: Sie stand stets öffentlich zugänglich in der Universitätsbibliothek Santiago.
Doch damit endet die Reihe der Verdrehungen Farías’ noch nicht. Auch den Gesetzesentwurf zur Sterilisierung Geisteskranker, den Allende laut Farías Ende der 30er-Jahre als Gesundheitsminister forciert habe, habe es so nie gegeben, referiert der spanische Rechtsanwalt Joan E. Garcés, selbst ehemaliger persönlicher Berater Allendes, in seiner Einführung zu Allendes Doktorarbeit. Vielmehr habe Allende in einem Interview mit der Zeitung La Nación im November 1939 seine Prioritäten klar dargestellt: Mütterbetreuung, Kinderbetreuung, Schulpflicht, Hygiene im Haushalt, Kampf gegen Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus und Drogenmissbrauch. Garcés’ Hinweis entkräftet nicht den Vorwurf, Allende habe an einem Gesetzentwurf zur Zwangssterilisierung arbeiten lassen. Immerhin wäre das für die damalige Zeit auch nicht ungewöhnlich gewesen: Die Eugenik stand hoch im Kurs, in verschiedenen US-amerikanischen Bundesstaaten und in Schweden wurde bis weit in die 70er-Jahre hinein die Idee der Aufbesserung der genetischen Qualität der Bevölkerung durch erzwungene Sterilisationen praktiziert. In Chile allerdings eben nicht, auch nicht auf Betreiben von Salvador Allende.
Geradezu hinterhältig ist jedoch Farías’ Anwurf gegen Allende im Falle des Naziverbrechers Walter Rauff. Der Erfinder der Gaslastwagen war nach dem Krieg in Chile untergetaucht. Als er dort aufgespürt wurde, stellte die Bundesregierung ein Auslieferungsersuchen, das jedoch 1963, sieben Jahre bevor Allende an die Macht kam, vom Obersten Gerichtshof in Chile mit der Begründung abgelehnt wurde, dass nach chilenischem Recht auch Mord nach 15 Jahren verjähre. In seinen Erinnerungen schreibt der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, ihm sei daraufhin klar geworden, dass man auf eine andere chilenische Regierung warten müsse, bis sich womöglich die Chance ergeben könnte, Rauff doch noch ausliefern zu lassen. Mit Allendes Wahl 1970 sah er die Chance gekommen und schrieb dem Präsidenten 1972 einen Brief. Allende antwortete, dass aufgrund der Gewaltenteilung ausschließlich die Gerichte über solche Anliegen entscheiden könnten. Er persönlich unterstütze und bewundere die Arbeit Wiesenthals und empfahl ihm, ein erneutes Auslieferungsersuchen der Bundesrepublik zu erwirken. Am 3. November 1972 antwortete Wiesenthal, er habe mit den deutschen Behörden über ein erneutes Gesuch gesprochen, und bedankte sich herzlich für Allendes „warmen und herzlichen Brief, der zeigt, dass Sie tatsächlich eine bewundernswerte Person sind“. In seinen Memoiren berichtet Wiesenthal über die weitere Überlegung, gegen Rauff „möglicherweise in einem anderen Land mit einer günstigeren Gesetzgebung […] vorzugehen. Aber bevor Allende auf meinen zweiten Brief antworten konnte, gab es einen Staatsstreich und Allende starb.“
Keine der Anschuldigungen von Farías hält der näheren Prüfung stand. Kein Wunder also, dass Allendes ehemalige Mitstreiter nun alles in Bewegung setzen, um zu verhindern, dass Farías’ Veröffentlichungen das Bild Allendes nachhaltig beschädigen. Nur: Irgendwas bleibt immer hängen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen