piwik no script img

Sozialarbeiter über Problemfamilien„Es trifft auch reiche Eltern“

Eltern sein ist nicht einfach, und Großwerden ist kein Kinderspiel. Paul Linde arbeitet seit über zehn Jahren als Familien- und Einzelfallhelfer.

Beim Spaziergang durch den Kiez offenbaren sich viele Probleme: Familienhelfer Paul Linde bei der Arbeit Foto: Karlotta Ehrenberg
Interview von Karlotta Ehrenberg

taz: Herr Linde, was genau ist Ihre Aufgabe?

Paul Linde: Als Familienhelfer unterstütze ich vor allem Eltern bei Erziehungsfragen und der Organisation des Familienalltags. Das können praktische Dinge sein, indem ich zum Beispiel helfe, ein Kinderbett zu organisieren. Bei manchen Familien sind auch Sprachbarrieren ein Problem oder dass sie neu in der Stadt sind und sich nicht auskennen. Denen zeige ich, wo sie welche Hilfe bekommen können.

Wie läuft das ab?

Meist besuche ich die Familien zu Hause, begleite sie aber auch zum Jobcenter, zu Elterngesprächen in der Schule oder zum Arzt. Das Ziel ist dabei immer, dass die Familie ihren eigenen Weg aus der Krise findet. Was muss getan werden, damit der Alltag besser läuft, es weniger Stress oder Streit gibt? Oft ist das am Anfang noch gar nicht so klar. Dann geht es erst mal darum, zusammen herauszufinden, wo es genau hakt.

Familienhilfe

Die Person

Paul Linde, Jahrgang 1981, ist Diplompsychologe, zudem hat er eine Weiterbildung in systemischer Beratung und Therapie absolviert. Seit 2013 arbeitet er in der ambulanten Familienhilfe.

Die Zahlen

Im Jahr 2022 gewährten die zwölf Berliner Jugendämter in rund 3.000 Fällen Einzelbetreuung von Minderjährigen. Zudem erhielten rund 9.000 Familien Hilfe von Päd­ago­g:in­nen der insgesamt 19 freien Träger der Jugendhilfe. Auch die Erziehungsberatung fand 2022 großen Anklang: hier wurden laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg über 8.000 Fälle beraten. (keh)

Und worin besteht die Einzelfallhilfe?

Bei der Einzelfallhilfe steht das Kind im Fokus. Natürlich spreche ich auch mit den Eltern, die Hauptarbeit ist aber, dass ich ein oder auch mehrmals die Woche Zeit mit dem jungen Menschen verbringe. Das kann zu Hause sein, meistens gehe ich mit den Kindern oder Jugendlichen aber auch raus, erkunde mit ihnen die Stadt und die Freizeitangebote, die es im Kiez gibt. Manchmal spielen wir auch nur oder kochen was. Dabei reden wir viel miteinander, auch über Dinge, über die sie mit den Eltern vielleicht nicht so gut reden können. Einzelfallhelfer beteiligen sich auch in der Erziehungsarbeit, indem sie zum Beispiel mit den jungen Menschen über angemessenen Medienkonsum sprechen – Mediensucht ist ein großes Problem. Aber auch Quatschmachen gehört zu meiner Arbeit. Denn manchmal geht es einfach nur darum, einem jungen Menschen, der in einer Krise oder anderen schwierigen Situation steckt, eine Auszeit zu geben.

Wer beauftragt Sie und für wie lange?

Meistens dauert ein Einsatz ein halbes oder ein Jahr, manchmal werden auch zwei Jahre daraus, oder ich unterstütze eine Familie nach einer Weile noch einmal. Ich arbeite für einen freien Träger. Der wird wiederum vom Jugendamt beauftragt.

Das heißt, Sie kommen nicht auf den Wunsch der Eltern?

Doch natürlich, oft sind es die Eltern, die sich mit der Bitte um Unterstützung an das Jugendamt wenden. Häufig machen aber auch Außenstehende wie zum Leh­re­r:in­nen oder Er­zie­he­r:in­nen das Jugendamt auf ein Kind oder eine Familie aufmerksam. Wenn das Jugendamt eine Familienhilfe für nützlich hält, kommen wir ins Spiel. In Gesprächen klären wir mit der Familie dann erst mal, was genau das Problem ist. Manchmal müssen wir auch nachsehen, ob genug Essen im Kühlschrank und die Wohnung kindgerecht eingerichtet ist.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie in solchen Fällen nicht besonders willkommen sind …

Ja, das stimmt. Ich versuche den Eltern dann erst mal klarzumachen, dass ich sie nur eine bestimmte Zeit begleite und sie mich danach wieder los sind (lacht). Viele Eltern wissen auch gar nicht, wie Familienhilfe funktioniert. Oder sie haben sich nicht getraut zuzugeben, dass sie Hilfe brauchen. Da ist viel Scham im Spiel. Ich sage Eltern oft, dass sie einen der wichtigsten, aber auch härtesten Jobs haben und sie alle Unterstützung verdienen. Natürlich ist es nicht ohne, fremde Leute in die Wohnung zu lassen, wir müssen uns auch erst mal alle kennenlernen. Meist finden wir schnell zusammen. Wenn nicht, können die Familien auch ei­ne:n an­de­re:n Fa­mi­li­en­hel­fe­r:in bekommen.

Wo werden Sie eingesetzt und welche sozialen Situationen begegnen Ihnen?

Mein Träger betreut Familien und Kinder im Süden von Berlin. Die familiären Situationen sind sehr unterschiedlich. Es gibt da eine Straße, in der ich oft eingesetzt werde, da stehen auf der einen Seite Sozialbauten und auf der anderen Einfamilienhäuser. Ich bin auf beiden Seiten unterwegs.

Was dem Vorurteil widerspricht, dass vor allem einkommensschwache Familien Hilfe benötigen.

Doch, Armut spielt eine große Rolle. Es gibt Wohnblöcke in sozialen Brennpunkten, in denen so gut wie jede Familie mal Kontakt zum Jugendamt hat. Dass die Eltern so überfordert sind, liegt oft daran, dass sie nicht wissen, wie sie alle satt kriegen sollen. Mit Armut sind außerdem viele andere Probleme verknüpft. Zwar gibt es körperliche Krankheiten, psychische und Sucht­erkrankungen in allen Familien. Arme Menschen sind davon aber häufiger betroffen, und Armut macht es auch extrem viel schwerer, damit klarzukommen. Zudem gibt es eine Vielzahl praktischer Probleme. Arme Familien leben meist auf viel zu engem Raum. Kinder und Eltern haben oft kein eigenes Schlafzimmer und damit keine Rückzugsmöglichkeit. Oder es gibt nur Mamas Handy, und alle wollen dran. Viele Familien finden kreative Wege, damit zu leben. Aber natürlich führt das auch zu Ärger und Stress. Und manchmal dazu, dass Eltern Dinge tun, die sie eigentlich nicht wollen …

Sie spielen auf häusliche Gewalt an.

Ja. Das ist ein Thema, das mir überall begegnet. Sehr häufig ist Gewalt ein Zeichen von Überforderung. Wenn Menschen sich ohnmächtig fühlen, greifen sie oft nach dem ersten ihnen bekannten Mittel, das ihnen verspricht, wieder ein Gefühl von Macht zu erlangen. Und das bedeutet bei vielen Menschen leider häufig, dass sie herumschreien oder die Faust schwingen. Oft haben sie es selbst früher so erlebt und kennen keine gewaltfreien Mittel, um zum Beispiel Grenzen zu setzen. Manche Eltern reagieren auf Überforderung aber auch mit Rückzug, sie verschwinden aus der Wohnung, hinter ihrem Handy oder Bierglas. Dann geht der Kontakt zu den Kindern verloren. Das geht bis hin zu schwerer Vernachlässigung und hat natürlich schwere Folgen für die Kinder. Die manchmal auch selbst die Flucht ergreifen. In der Coronazeit habe ich immer wieder große Gruppen von Jugendlichen beobachtet, die auf den Straßen abhingen. Zu Hause haben sie es nicht ausgehalten. Und auch Computerspiele bieten eine Welt, in der man sich als Kind oder Jugendlicher stark, kompetent und weniger hilflos fühlen kann.

An vielen Ursachen für die Probleme von Familien und Kindern, wie etwa dem mangelnden Angebot an erschwinglichen Wohnungen, Freizeit- und Betreuungseinrichtungen, können Sie als pädagogischer Helfer gar nichts ändern. Fühlen Sie sich da nicht ohnmächtig?

Ja. Allerdings denke ich, dass vieles erträglicher wäre, wenn die Familien besser vernetzt wären. Das Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, stimmt meiner Erfahrung nach. Heute sind Eltern aber meistens völlig auf sich allein gestellt. Da ist keiner, der das Kind abholt, wenn man noch auf der Arbeit ist, oder aufpasst, wenn die Eltern mal Zeit für sich oder füreinander brauchen. Dieses Problem der mangelnden Unterstützung von außen trifft auch reichere Eltern. Zwar haben sie vielleicht Geld, um eine Haushaltshilfe oder einen Babysitter zu bezahlen. Aber wenn es darum geht, mit einem wütenden Kind zurechtzukommen, sind auch sie völlig allein damit. Hier würde es oft schon ausreichen, wenn sie sich mit anderen Eltern austauschen und einen guten Rat erhalten könnten.

Wenn Familien in gemeinschaftlichen Strukturen besser eingebunden wären, bräuchte es also vielleicht gar keine Familienhelfer mehr?

Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Damit sich Familien und Eltern vernetzen können, braucht es aber natürlich geeignete Orte der Begegnung, Familienzentren etwa, aber auch Sport- und andere Freizeiteinrichtungen. Diese Angebote müssen niedrigschwellig, möglichst kostenlos und ausreichend vorhanden sein. Das ist in Berlin aber nicht der Fall. Im Gegenteil, gerade in diesen Bereichen wird in dieser Stadt besonders heftig gespart.

Gespart wird auch an der Jugendhilfe. Das prangert die „AG Weiße Fahnen“ mit ihren Protestaktionen regelmäßig an: Sämtliche Akteure der Jugendhilfe können wegen der Sparmaßnahmen ihrer Arbeit nicht richtig nachgehen.

Ja, es ist eine Katastrophe. Alle Stellen, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, sind völlig unterbesetzt: die Jugendämter, die Sozialarbeit in den Schulen, aber auch Ärz­t:in­nen und The­ra­peu­t:in­nen gibt es viel zu wenig. Alle sind überarbeitet, viele frustriert. In den Jugendämtern werden aus der Not heraus Neu- und Quer­ein­stei­ge­r:in­nen oft nicht ausreichend eingearbeitet und mit viel zu vielen Fällen betraut. In vielen Familien werde ich erst eingesetzt, wenn die Situation schon eskaliert ist. Oft lag die Akte schon Monate unbearbeitet auf dem Tisch. Kinderschutz kann so nicht garantiert werden. Dabei ist das gesetzliche Pflicht.

Berlin müsste also mehr Geld in die Hand nehmen, um Fachkräfte auszubilden und einzusetzen?

Das ist dringend nötig, ja. Mindestens so sehr braucht es jedoch eine Gesellschaft, in der sich die Leute gegenseitig unterstützen und in der ohne Scham über familiäre Probleme gesprochen werden kann. Viele Eltern geraten an ihre Belastungsgrenze, weil ihnen vermittelt wird, dass sie das alles allein und perfekt hinkriegen müssen. Wenn ihnen das nicht gelingt, fühlen sie sich schuldig und schämen sich. Dabei ist das unmöglich. Ein Kind großzuziehen schafft man nicht allein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Vielleicht wäre hier eine Aufgabe für die Kirchen? Wenn man sich vom Gottesdienst oder Gebetskreis kennt, sollte es möglich sein, Vertrauen aufzubauen.



    Welche Ideologien hindern uns daran?



    Wurde durch die Debatte über den Sexuellen Missbrauch jedes Vertrauen zerstört?



    Oder gibt es dort auch kein Personal mehr, um über den Kernbereich an Vorbeten und Religionsunterricht noch Caritas zu machen?

    • @Christoph Strebel:

      Die Leute, um die es hier geht - arm, Wohnblock in sozialen Brennpunkten wohnend - finden sie eher selten in Kirchengemeinden.

      Die Kirchengemeinden bieten viel für Familien.

      In manchen Ecken gibt es Mutter-Kind-Gruppen fast nur in Kirchengemeinden.

      Nur ist das Klientel dort nicht unbedingt das von Herrn Linde.

  • Spannend ist die Frage nach den Einsparmaßnahmen.

    Herr Linde antwortet mit einem Ja, beschreibt dann aber, dass das Problem darinliegt, dass vorhandene Stellen nicht besetzt werden können, nicht dass Stellen gestrichen werden.

    Deckt sich mit dem, was in meinem persönlichen Umfeld abgeht.

    Wer soziale Arbeit studiert hat, kann sich den Arbeitgeber aussuchen.

    Sogar als Berufsanfänger.