Geschichte der Psychoanalyse: Erfolg und Fluch

Dagmar Herzog hat in ihrem Buch die Entwicklung der Psychoanalyse dokumentiert. Es ist außerdem ein packendes Zeitgeist-Panorama.

Eine Frau liegt ausgestreckt auf einem Sofa, dahinter sitzt ein Mann im Sessel

Klassisches Setting der Psychoanalyse Foto: Bob Wands/ap/picture alliance

Irgendwie sind wir alle verkorkst und wünschten, es etwas weniger zu sein, wir spüren, wie uns Prägungen und Charaktereigenschaften im Wege stehen oder wenigstens empfinden wir, wie Wünsche, Sehnsüchte und tiefsitzende Muster immer wieder in Widerstreit geraten können.

Sigmund Freuds Wissenschaft von der Topik des psychischen Apparats – Ich, Es und Über-Ich – hat all das erstmals systematisch zu ergründen versucht, und die Psychoanalyse seither hat sich mit allem Möglichen beschäftigt. Mit frühkindlicher Sexualität, Ödipus und Penisneid, aber auch mit den neurotisierenden Wirkungen von gesellschaftlicher Realität, mit Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst. Sie hat sich mit dem autoritären Charakter beschäftigt, mit der libidinösen Anziehungskraft von Faschisten.

Gilles Deleuze und Felix Guat­ta­ri vermerkten in ihrem „Anti-Ödipus“, „in Wahrheit ist die Sexualität überall“, und die Zerrissenheit zwischen sexualisierter Obsession und neurotisch unterdrückten Wünschen führt zu Übertretungs-Lust: „Hitler brachte es zustande, dass den Faschisten einer stand – wie auch Fahnen, Nationen, Armeen … viele Leute aufgeilen.“

Wilhelm Reich erkannte, dass der Faschismus keine rein reaktionäre Bewegung war, sondern „er stellt ein Amalgam dar zwischen rebellischen Emotionen und reaktionären sozialen Ideen“. Er spricht sowohl autoritäre Sehnsüchte an als auch anti­autoritäre.

Dagmar Herzog: „Cold War Freud“. Aus dem Englischen von Aaron Lahl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 380 Seiten, 28 Euro

Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie

Die Psychoanalyse oder eine mit psychoanalytischen Kategorien operierende Gesellschaftstheorie hat zu vielen Aspekten der menschlichen Existenz Erhellendes zu sagen, nur leider auch sehr viel Widersprüchliches.

Sie durch strenge Naturwissenschaft – etwa Pharmazie oder die Erkenntnisse der Neurowissenschaften – zu ersetzen, klappt auch nicht so recht, denn die haben letztlich „sehr wenig über entscheidende Merkmale der menschlichen Existenz zu sagen, etwa über konfligierende Wünsche, die Instabilität von Bedeutungen oder die stets rätselhaften Beziehungen zwischen psychischer Innerlichkeit und sozialem Kontext“, schreibt die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog.

In „Cold War Freud“ schreibt Herzog eine politische Geschichte der Psychoanalyse seit etwa den 1940er Jahren, also der Post-Sigmund-Freud-Ära. Es ist eine Geschichte von Freuds Lehre zwischen Anpassung und emanzipatorischen Angriffen auf die herrschenden Verhältnisse. Ein packendes Panorama. Unpolitisch war die Psychoanalyse nie. Für den Konservatismus war sie verdächtig, religiöse Frömmler fanden sie schier gotteslästerlich.

Als „jüdische“ Wissenschaft war die Psychoanalyse für Antisemiten ein rotes Tuch

Wer das Individuum aus Zwängen befreien wollte, die es knechteten, fand sie dagegen fruchtbar. Und mit einem progressiven Zeitgeist war die Psycho-Wissenschaft sowieso eng verbunden: Sie wandte sich der Innerlichkeit der Subjekte zu. Als „jüdische“ Wissenschaft war sie für Antisemiten ein rotes Tuch.

Psychoanalyse in der Nachkriegszeit

Umso erstaunlicher, was dann im Nachkrieg ab 1945 geschah. Aufgrund der Vertreibung war das Zentrum der psychoanalytischen Bewegungen von Europa in die USA verschoben worden. Und sie hat sich dort allmählich dem amerikanischen Zeitgeist der 40er und 50er Jahre angepasst. Radikalere Emigranten zogen den Kopf ein, um nicht aufzufallen.

Im Klima der McCarthy-Meinungsdiktatur war der Druck noch stärker, konservative und christliche Psychoanalytikerinnen gewannen ihrerseits an Gewicht in der Branche. Die Psycho-Mode verschaffte dem Freudianismus einen Aufschwung, zog ihm allerdings den gesellschaftskritischen Stachel – mehr und mehr war die Psychoanalyse auf „Selbst­opti­mie­rung sowie ‚die Macht des positiven Denkens‘ ausgerichtet“, so Herzog.

Thematiken wie Eros, Sexus, Libido wurden im Geist des Nachkriegskonservatismus unter den Teppich gekehrt. Herzog spricht von der „Entpolitisierung der amerikanischen Psychologie“. Bis dann die rebellischen Sixties wieder alles veränderten.

Angepasste und homophobe Psychoanalytiker auf der einen, rebellische und emanzipatorische und Anhänger der sexuellen Revolution auf der anderen Seite lieferten sich wüste Gefechte. Streckenweise liest sich das Buch wie ein intellektueller Thriller voller bizarrer ­Paradoxien und wilder Neuerungen.

Neurosen und Komplexe

Die Nazis etwa hatten die „jüdische Wissenschaft“ verdammt, doch gingen wesentliche Erkenntnisse in die Psychologie und die Psychiatrie ein, wurden auch populär (Konzepte von „Neurosen“ oder „Komplexen“ etwa). In der Nachkriegszeit haben deutsche, postfaschistische Psychologen mit freudianischen Begrifflichkeiten viele Gutachten in Entschädigungsverfahren erstellt.

Es wurde postuliert, dass „ein normaler Mensch“ belastende Erfahrungen in sechs Monaten überwunden hätte, weshalb einem KZ-Überlebenden, der schwer misshandelt wurde, der alle seine Angehörigen verloren hatte, eine „hypochondrische Einstellung“ attestiert wurde, statt einer schweren seelischen Verwüstung. Anderen wurde beschieden, es sei die Aussicht auf Opferrente, die dazu führe, „dass Menschen nicht gesund werden könnten“. Da war von der „Flucht in die Krankheit“ die Rede, weil diese „Krankheitsgewinn“ brächte.

Häufig wurde argumentiert: Wer als Vierzigjähriger traumatisiert aus dem KZ kam, war wohl schon vorher verkorkst, da der Freud’schen Lehre entsprechend ja frühkindliche Erlebnisse und Prägungen für psychische Schäden verantwortlich seien. Entschädigungsanspruch läge deshalb keiner vor.

Widersprüchliche Globalgeschichte

Die widersprüchliche Global­geschichte der Psychoanalyse zeigt auch, wie der große Erfolg zu einem Fluch werden kann. Die Popularisierung versimpelte die Psychoanalyse als Gesellschaftstheorie, der Theo­rie­plu­ra­lis­mus, die Aufsplitterung in heterogene Schulen trug zu einem gewissen Niedergang nach dem „Zenit des Einflusses“ bei. Die Zentralität von Sexualität geriet etwas in den Hintergrund, und mit radikalem gesellschaftlichem Wandel stand auch die krankhafte Unterdrückung von Sexualität durch Spießigkeit und Konventionen weniger im Fokus.

In hedonistischen Gesellschaften sind Probleme entfremdeten Sexuallebens einfach andere. Konsumismus, verdinglichtes Begehren, der Aggressionstrieb, der emotionale Stil, die seelische Verwundetheit von Kolonisierten – die Psychoanalyse zerfaserte sich produktiv in eine schier endlose Liste von Thematiken.

So ist Herzogs Studie zu einer famosen Geschichte der letzten 80 Jahre Zeitgeist und ­Geistesleben geworden, von Frantz Fanon über Jacques Lacan, von Karen Horney über Alexander Mitscherlich bis Konrad Lorenz treten sie alle aus den Kulissen.

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