Huckleberry-Finn-Neuerzählung „James“: Die umgedrehte Perspektive
Der afroamerikanische Autor Percival Everett erzählt im Roman „James“ eine Abenteuergeschichte. Es geht auch um Mark Twains Blick auf die Sklaverei.
Anlässlich der Veröffentlichung von „James“, dem neuen Roman von Percival Everett, erschien im New Yorker ein großes Porträt des US-amerikanischen Schriftstellers. Maya Binyam, die Autorin, fragt darin den afroamerikanischen Autor nach seiner Lektüre von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, dessen Geschichte „James“ nun aus der Sicht des Sklaven Jim neu erzählt.
Er habe, antwortet Everett, den Roman als Jugendlicher nicht mit besonderer Begeisterung gelesen. Bei der neuerlichen Lektüre, vor der Abfassung von „James“, hätte er ihn als „blur“ empfunden, was so viel bedeutet wie „verschwommen“, „undeutlich“, aber auch „verzerrend“.
Eine Interpretation, die, ließe sich ergänzen, Mark Twains Absicht auch ziemlich nahe kommt: „Wer versucht“, schreibt der Klassiker Twain in einer ironischen Vorbemerkung, „in dieser Erzählung … eine Moral … zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen.“ Was dann allerdings nichts daran geändert hat, dass „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ immer als Text gegen den Rassismus gelesen wurden.
Aber kann man ihn auch als harmlosen Jugendroman lesen, in dem das eigentliche Grauen der Sklaverei nicht vorkommt? Viele Reaktionen von Jim bleiben dem heutigen Leser rätselhaft. Warum, beispielsweise, kann Jim sich vor Freude gar nicht mehr einkriegen, als er Huck nach einer Trennung wiedersieht? Beim ersten Lesen ist man von der tiefen Freundschaft Jims gegenüber Huck gerührt. Aber freut sich Jim nicht auch deshalb so sehr, weil der weiße Huck ein Stück weit seine Lebensversicherung ist?
Percival Everett: „James“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2024, 336 Seiten, 26 Euro
Twain erwähnt zwar Jims Angst vor den Sklavenjägern; aber was es konkret bedeutet, wenn sie ihn einfangen, erzählt er nicht. Jim bleibt deshalb blur. Allerdings gilt das auch für andere Figuren in Twains Roman, was wohl an seiner Absicht liegt, sie für den Leser „offen“ zu halten und jede Psychologisierung zu vermeiden.
Die Angst ausfüllen
Percival Everett ändert das nun. Indem er in „James“ die Flucht von Huck und Jim den Mississippi hinunter aus der Sicht von Jim erzählt, wird deutlich, weshalb ein etwa 13-jähriger Junge so wichtig für einen erwachsenen, um die 30 Jahre alten Mann wird. Es ist die Macht, die Huck allein aufgrund seiner Hautfarbe hat. Huck kann als Weißer die Situation am Ufer auskundschaften; Jim darf auf keinen Fall entdeckt werden.
Einen Satz wie „aber wie er sich in der nächsten halben Stunde abrackerte, das zeigte, was für ne Angst er hatte“ füllt Everett erzählerisch mit Inhalt. Dabei hält er sich im Großen und Ganzen an den Plot Twains, lässt jedoch eine Reihe von Ereignissen weg und erzählt dafür neue. So wird in Everetts Version der Geschichte deutlich, wie schnell ein Sklave in den amerikanischen Südstaaten gelyncht wurde und wie perfide die nachträgliche juristische Begründung dafür war.
Sammy, ein junges Mädchen, das verkauft und dadurch von ihrer Familie getrennt wurde, wird immer wieder von ihrem neuen Sklavenhalter vergewaltigt. Eindrucksvoll schildert Everett ihre Angst. Eine andere Stelle in „James“ könnte man als Kommentar zur identitätspolitischen Diskussion zur Gegenwart interpretieren. Jim denkt an seine Tochter, die er mit seiner Frau zurücklassen musste. „Ich fragte mich, wie sehr sie sich in diesem Augenblick um mich ängstigte, und fand den Gedanken, dass sie Angst verspürte, entsetzlich. Mir wurde klar, dass ich ihn deshalb entsetzlich fand, weil ich dieses Gefühl so gut kannte, jeden Tag, jede Nacht.“
Authentizität und Klischee
In „Erasure“, einem anderen Roman von Percival Everett, der gerade unter dem Titel „American Fiction“ verfilmt wurde, hatte der nur bei der Kritik, aber nicht bei den Lesern erfolgreiche Schriftsteller Thelonious Ellison den Bestseller einer schwarzen Kollegin kritisiert. Ein Roman, in dem sie die Geschichte einer schwarzen Frau mit gewaltsamer Ghetto-Kindheit erzählt. Das Buch würde auffälligerweise besonders vom weißen Kulturestablishment gepriesen, sagt Ellison in diesem Roman, obwohl die Autorin selbst aus wohlhabenden und behüteten Verhältnissen käme. Ein Buch, das die Erwartungen des Marktes nach Klischees und „authentischen“ Geschichten von Schwarzen aus dem Elend bediene und nicht nach literarischer Qualität.
In „James“ vertritt Everett nicht die These, dass er den Sklaven Jim besser verstehen könnte, weil er Afroamerikaner ist; aber, so könnte man sagen, einen weißen Autor hat es bisher auch nicht interessiert, die Leerstellen in dem Twain’schen Roman mit Inhalt zu füllen.
Dass „James“ ein Thesenroman ist, liegt im derzeitigen Trend. Der Eindruck, dass eine Idee den Roman prägt, kommt auch dadurch zustande, dass sich Jim in Everetts Version heimlich das Lesen beigebracht hat und bei dessen Abwesenheit durch die Bibliothek des Friedensrichters Thatcher arbeitet. Als Jim auf der Flucht mit Huck von einer Schlange gebissen wird, erscheint ihm in einem Fiebertraum Voltaire und er diskutiert mit ihm sein Menschenbild; Voltaire, der mit „Candide“ einen der prominentesten Thesenromane geschrieben hat.
Auch John Locke taucht in dieser Szene auf, der Philosoph, der die Sklaverei ablehnte. Aber warum, fragt ihn Jim im Traum, hätte er dann für den Inselstaat Barbados eine Verfassung geschrieben, die die Sklaverei legalisiert?
Theoretisch wäre ein so umfassend gebildeter Sklave wie dieser Jim möglich gewesen, praktisch aber war das äußerst selten. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, die Geschichte umzuschreiben, indem man sie mit realitätsfernen Figuren erzählt.
Im Grunde war das ja das Konzept des sozialistischen Realismus mit seiner Forderung, die Geschichte positiver Helden aus der Arbeiterklasse zu erzählen. Andererseits betrachtet Everett selbst „James“ nicht als Thesenroman. In dem erwähnten Porträt von Maya Binyam, das den Titel „Percival Everett Can’t Say What His Novels Mean“ trägt, wehrt er sich gegen die Interpretation, dass „James“ eine Art Gegen-Huckleberry-Finn sei.
Allerdings stellt auch Binyam die Frage, wie der Roman letztlich von seinen Lesern interpretiert werden wird. Und wie hätte Everetts 2019 verstorbene Kollegin Toni Morrison ihn gelesen? Wahrscheinlich so, wie sie die männlichen Klassiker der afroamerikanischen Literatur gelesen hat. Zu Ralph Ellisons Klassiker „Der unsichtbare Mann“ meinte sie: „Die Frage für mich war:,Unsichtbar für wen?' Für mich nicht.“ Auch in „James“ spielen Frauen keine große Rolle.
Ganz abgesehen davon, dass Morrison mit „Menschenkind“ einen anderen literarischen Ansatz verfolgt hat, über die Sklaverei zu schreiben. Einem, in dem deren Monstrosität in einer monströsen Tat endet, bei der die Sklavin Sethe ihre Kinder tötet, um ihnen ein Leben als Sklaven zu ersparen. Etwas, das den Leser verstört, aber noch lange über das Buch nachdenken lässt.
„James“ macht vieles deutlich, was Twain nur andeutet oder nicht erzählt. Und der Roman fügt den Abenteuern von Jim und Huckleberry Finn weitere Details der Geschichte des Rassismus in den USA hinzu. Die Dialoge sind ironisch, witzig und in ihrer Hintergründigkeit interessant.
Der Abenteuerplot macht den Roman zum Page-Turner. Aber entgegen der Meinung von Everett, einen dekonstruktivistischen Roman geschrieben zu haben, ist die Absicht überall erkennbar. Die Idee, Mark Twains Geschichte gegen den Strich zu bürsten, hat vielleicht nicht zu einem Gegentext geführt, sondern eher zu einer Ergänzung; literarisch überzeugend ist das aber nicht gänzlich.
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