Ex-Chef der Ständigen Impfkommission: „Es war nie mein Ziel, erkannt zu werden“
Virologe Thomas Mertens gehörte zu den Gesichtern der Pandemie. Jetzt verlässt er die Stiko. Ein Gespräch über Politiker, Angst und gefrorenen Urin.
wochentaz: Herr Mertens, haben Sie überhaupt noch Lust, über die Corona-Zeit zu sprechen?
Thomas Mertens: Warum sollte ich damit Probleme haben? Das war eine äußerst anstrengende Zeit, aber fachlich überaus spannend.
Bevor wir den Ritt durch die Pandemie beginnen, springen wir ins Jahr 2018. Sie sind 67 und halten als Professor in Ulm Ihre letzte Vorlesung. Der Titel war „Am Ende: Impfungen“. Dachten Sie, jetzt mach ich neben der Rente noch ein bisschen Stiko?
Ich habe noch selbst gegen Pocken geimpft und schon als junger Professor Vorlesungen in Immunologie gehalten. Das Thema Impfungen lag mir ganz nah. Ich bin überzeugt davon, dass Impfungen eine der genialsten Errungenschaften der Medizin sind. Bei meiner Abschiedsvorlesung habe ich aber auch gesagt, dass der große Erfolg der Impfungen zugleich ihr Problem ist. Menschen in Deutschland kennen keine Diphtherie, Kinderlähmung oder Pocken mehr. Krankheiten, die menschheitsgeschichtlich eine immense Bedeutung hatten, sind durch Impfung so zurückgedrängt, dass sie im gesellschaftlichen Bewusstsein keine Rolle mehr spielen.
Gegen diesen Bedeutungsverlust wollten Sie als Stiko-Vorsitzender antreten?
Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist es uns in Deutschland nie besonders gut gelungen, die erwachsenen Risikogruppen in ausreichender Zahl vom Impfen zu überzeugen. Bei der Grippe zum Beispiel gibt es ein statistisch genau bekanntes Risiko für über-60-Jährige, schwer zu erkranken. Und trotzdem schaffen wir es nicht annähernd, die erforderliche Impfquote von 75 Prozent zu erreichen. Das ist schwer verständlich, aber ich glaube, dass dies vor allem eine Frage der Kommunikation ist. Retrospektiv betrachtet war die Kommunikation auch das größte Problem in der Corona-Zeit.
Anfang Januar 2020 erreichte die Nachricht von einem unbekannten Virus aus China die deutschen Massenmedien. Wie schnell war Ihnen klar: Hier kommt eine Riesenaufgabe auf die Stiko zu?
Das war uns schon Ende 2019 klar. Wir haben sehr schnell angefangen, die Frage der Priorisierungen zu diskutieren.
Lange bevor es im Dezember 2020 den ersten Impfstoff gab, haben Sie schon darüber nachgedacht, wer ihn zuerst bekommt?
Ja natürlich. Es war absehbar, dass es nicht sofort genügend Impfstoff für alle geben wird. Weil Priorisierung auch ein ethisches Problem ist, hat ein Gremium aus Ethikrat, Wissenschaftsakademie Leopoldina und Stiko eine Stellungnahme erarbeitet. Dann ging unsere Hauptaufgabe los: Alle verfügbaren Daten zu beschaffen, auf deren Basis wir Empfehlungen geben konnten, die die Impfung eines ganzen Volkes betreffen.
Sie gehörten als über-60-Jähriger selbst zur Risikogruppe für eine schwere Erkrankung. Hatten Sie Angst um Ihr eigenes Leben?
Ich bin von Hause aus kein ängstlicher Mensch. Das hat sich auch in der Corona-Zeit in vielerlei Hinsicht bewährt.
Sie meinen die persönlichen Anfeindungen?
Wir wurden angepöbelt beim Einkaufen, beim Sonntagsspaziergang. Meiner Frau hat das wesentlich mehr ausgemacht als mir. Die epidemiologischen Aspekte hätte ich als Virologe vorhersagen können. Aber diese gewaltigen gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Auswirkungen, das habe ich nicht vorhergesehen.
Wann sind Sie damals das erste Mal auf der Straße erkannt worden?
Das weiß ich nicht mehr.
War es Ihnen unangenehm, als Person so in den Fokus zu rücken?
Es war nie mein Ziel, auf der Straße erkannt zu werden. Da hatte ich kein heimliches Bedürfnis. Die Tatsache, dass ich mich öffentlich geäußert habe, entsprang einer Verabredung mit dem Ethikrat und dem Versuch, gute Aufklärung zu betreiben, nichts Falsches zu sagen und trotzdem für alle verständlich zu sein. Aber das ist extrem schwer. Die Voraussetzungen bei den zu Informierenden sind so unterschiedlich.
Spätestens ab der Debatte um die Kinderimpfungen war der Druck immens, Sie wurden persönlich in die Verantwortung genommen. Karl Lauterbach, damals noch nicht Bundesgesundheitsminister, sagte im Juni 2021, die Stiko müsse endlich die Impfung ab 12 allgemein empfehlen, sonst gebe es eine enorme Infektionswelle.
Diesen Druck habe ich und hat die Stiko aber nicht angenommen. Die Arbeitsbelastung war natürlich enorm hoch. Sie dürfen nicht vergessen, die anderen Stiko-Mitglieder hatten ja noch einen Hauptberuf. Wir haben uns ein- bis zweimal pro Woche mehrere Stunden beraten und dazwischen die Daten aufbereitet. Aber wir hatten eine wissenschaftliche Herangehensweise, von der wir auch unter dem Druck durch die Politik nicht abgewichen sind.
Können Sie die noch einmal kurz umreißen?
Jede medizinische Maßnahme ist eine Abwägung von erwartbarem Nutzen und möglichen Nebenwirkungen. Um das zu beurteilen, brauche ich Evidenz, also belastbare Daten. Je geringer der zu erwartende Nutzen ist, desto strenger muss ich bei der Bewertung der Risiken sein.
Klingt simpel, aber die Politiker*innen haben es nicht verstanden?
Ich habe da immer ein Bild vor Augen, wie große Desinfektionsmittelwagen durch asiatische Länder gefahren sind und Parkbänke besprüht haben. Infektiologisch und auch hinsichtlich der Umweltbelastung ist klar, dass das völliger Blödsinn ist. Also wozu macht man das?! Um die eigene Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.
So weit ist es bei uns nicht gekommen.
Nein. Es blieb bei verbalen Demonstrationen. Aber die eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, ist offenbar ein Bedürfnis der Politiker.
Entschlossenheit befriedigt aber auch ein Bedürfnis von Menschen in unsicheren Zeiten. Die Stiko und explizit Sie galten da als Schnarchnasen. Medien schrieben von einer „gefährlichen Gemütlichkeit“.
Das hat mich sicher nicht amüsiert. Aber wollen Sie Ihr Handeln von solchen Zwischenrufen abhängig machen?!
Das Bild der langsamen Stiko entstand vor allem dadurch, dass in anderen Ländern Entscheidungen schneller getroffen wurden, während die Stiko darauf pochte, sie hätte noch nicht genug Daten.
Nehmen wir mal das Beispiel der ersten Auffrischimpfung in Israel. Im Prinzip war das eine landesweite Impfstudie, denn es gab noch keine Daten zu Effekten und Nebenwirkungen der Auffrischimpfung. Aber Israel ist ein Land mit einer Bevölkerungszahl deutlich kleiner als Bayern und einem sehr guten Gesundheitssystem, in dem man sofort Daten analysieren kann. Deutschland war dagegen zu diesem Zeitpunkt fast auf dem Stand eines Entwicklungslandes, was die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten betrifft. Israel konnte das so machen und das hatte für andere Länder einen immensen Nutzen. Eine knappe Woche nachdem die ersten Daten aus Israel da waren und einen Tag nach den USA haben wir übrigens die erste Empfehlung für Auffrischimpfungen gegeben.
Gerade in Situationen, die Angst machen, gibt es ein starkes Bedürfnis nach eindeutigen Empfehlungen und nach Ausschluss von Risiken.
Risikowahrnehmung und Risikomanagement sind ein großes Problem. Ich habe meinen Studenten als Beispiel erzählt: „Es kann sein, dass Sie morgens aus dem Haus treten und von einem gefrorenen Urinklotz erschlagen werden, der sich von einem hochfliegenden Flugzeug gelöst hat. Aber Sie werden kaum von diesem Risiko Ihr weiteres Verhalten im Leben abhängig machen.“ Jeder hat seine Liste zu Gesundheitsrisiken, da stehen ganz oben Dinge wie Übergewicht und Rauchen. Und irgendwo weiter unten die Nebenwirkungen von Impfungen. Es wäre vernünftig, sich an dieser Liste zu orientieren, aber das tun Menschen eben nicht.
Wenn alle über Impfnebenwirkungen sprechen …
… dann rutscht das in der Risikowahrnehmung ganz nach oben, obwohl das nicht der Evidenz entspricht. Und da sind wir wieder bei der Kommunikation.
Irgendwann kippte die Frage, ob man sich impfen lässt oder nicht, in eine erbitterte Emotionalität. Verschwörungstheorien kursierten.
Was mich tatsächlich erstaunt und erschreckt hat, ist das tiefe Misstrauen mancher Menschen gegenüber Fachleuten. Es wird einem unterstellt, dass man nicht primär aus inhaltlichen Gründen auf der Grundlage von Daten agiert, sondern aus unlauteren Beweggründen. Wo kommt das her? Ist das die Lebenserfahrung dieser Menschen oder handeln sie selbst so?
Entspringt das nicht im Grunde auch der Angst und Hilflosigkeit?
Sicher. Das hängt auch mit der Komplexität der Dinge zusammen. Wir können nicht alles erklären und verstehen, wir müssen auf Fachleute vertrauen.
Wie gehen Sie denn mit Dingen um, die Sie nicht verstehen?
Die Situation hatte ich erst neulich – eine Diskussion im Freundeskreis zur Legalisierung von Cannabis. Da kenne ich weder die genauen Pläne noch die Daten zu Folgen von Konsum und Legalisierung. Wenn ich also die Evidenz nicht kenne, dann halte ich meinen Mund. Und wenn ich etwas so spannend finde, dass ich mich gern dazu äußern würde, dann muss ich mich eben einarbeiten. Alles andere ist gefärbt von dem, was ich gern als Ergebnis hätte.
Im Verlauf der Pandemie verbreiteten sich immer mehr widersprüchliche und falsche Meldungen, auch zum Thema Impfen.
Dieses Chaos der Kommunikation war schlimm. Da hatten manche Medien auch ihren Anteil, die nach Gegenmeinungen suchen, nur um wieder etwas Neues liefern zu können. In der Pandemie ist das ganz großer Mist und hat fatale Auswirkungen auf die Unsicherheit, die verständlich in der Bevölkerung herrscht. Wobei ich immer wieder betonen will: Die große Mehrheit hat sich doch absolut vernünftig verhalten. Die waren nur nicht so laut.
Ende 2021 gab es eine Befragung, in der die Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften als größer empfunden wurde als die zwischen Arm und Reich oder Links und Rechts.
Das hing mit den Einschränkungen gegen Ungeimpfte zusammen. In diesem Bereich muss noch einiges überlegt werden. Die Pandemie ist vorbei, die Zeit der Aufarbeitung hat begonnen. Das ist eigentlich etwas Positives.
Waren die Corona-Impfungen ein Erfolg?
Es wird jetzt vereinzelt gesagt, dass wir die Impfungen gar nicht gebraucht hätten. Aber das ist wirklich Blödsinn. Es gibt gute Berechnungen, dass in den USA rund 3,2 Millionen Todesfälle durch Impfungen verhindert wurden und bei uns in Europa rund 1 Million. Die Impfung war entscheidend für die Sicherung der medizinischen Versorgung und das Überwinden der Corona-Pandemie.
2018 haben Sie sich mehr Bedeutung für die Impfungen gewünscht. Hat die Pandemie alles schlimmer gemacht?
Da gibt es unterschiedliche Daten. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat 2023 Daten veröffentlicht, nach denen auch nach der Pandemie die positive Einstellung zu Impfungen überwiegt. Dazu passt noch mein persönliches Erleben: Wenn ich während der Pandemie erkannt und angesprochen wurde, war es überwiegend negativ. Jetzt ist es umgekehrt. Wenn mich mal einer erkennt, kommen eher Sachen wie „Ach, das habt Ihr gut gemacht.“ Gegen emotionale Aufwallungen hilft oft auch ein gewisser Abstand.
Welche Lehren sollten wir in Sachen Kommunikation ziehen?
Der einfachste Grundsatz ist, dass ich nichts sage, wenn ich nicht Bescheid weiß.
Schön, dass Sie das können. Gesellschaftlich klingt das nach einer Utopie.
Natürlich. Das ist auch ein Grund, warum ich befürchte, dass es bei der nächsten Pandemie nicht unbedingt besser laufen wird.
Rund ein Jahr nach dem offiziellen Ende der Pandemie geben Sie jetzt den Stiko-Vorsitz ab. Haben Sie vorher nie ans Aufhören gedacht?
Es gab Momente, wo ich dachte, wie bescheuert muss man sein, um unbezahlt den ganzen Ärger auf sich zu nehmen. Aber ich bin nicht der Typ, der etwas hinschmeißt, bevor es zu Ende ist.
Fast die ganze Stiko wurde jetzt ausgetauscht. Ein erzwungenes Ende?
Tatsächlich wird manchmal behauptet, Gesundheitsminister Lauterbach hätte mich entlassen. Aber erstens habe ich schon 2022 gesagt, dass ich nicht mehr zur Verfügung stehe. Und zweitens kann der Gesundheitsminister den Leiter der Stiko nicht feuern. Das war das Leid mancher Politiker, die in der Corona-Pandemie den Stiko-Vorsitzenden gern an der kürzeren Leine gehabt hätten.
Droht das jetzt mit der Umstrukturierung und Neubesetzung?
Nein. Die Unabhängigkeit der Stiko war immer eine große Errungenschaft und die wurde auch nicht angetastet. Im Gegensatz zum Robert-Koch-Institut ist die Stiko nicht weisungsgebunden. Und das hat sich auch in der Pandemie bewährt.
Was geht für Sie persönlich jetzt zu Ende?
Ich gebe Verantwortung ab. Aber nicht verbittert oder enttäuscht. Ich werde 74 und es ist gut so.
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