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Kritik an Hamburger WohneinrichtungKleinkinder im Schichtbetrieb

Im Kleinkinderhaus Hamburg-Altona werden Kinder bis sechs Jahre im Schichtdienst betreut. Bezirkspolitikerinnen sehen das kritisch.

Was brauchen Kinder, um sich geborgen zu fühlen? Foto: Jens Büttner/dpa

Hamburg taz | In Hamburg hat der private Jugendhilfeträger Sternipark ein neues Kinderschutzhaus eröffnet. Hier ist Platz für 17 in Obhut genommene Kleinkinder von null bis sechs Jahren. Der Bedarf ist da, denn die sechs anderen Einrichtungen dieser Art in Hamburg sind nahezu durchgehend voll, manchmal sogar überbelegt. Und trotzdem gibt es nun Kritik. Ein Vorwurf lautet: Die Sozialbehörde habe dem Träger den Auftrag gegeben, ohne den zuständigen Bezirk Altona in die Entscheidung einzubeziehen.

Katarina Blume ist eine der Kritikerinnen. Die Bezirksversammlung in Hamburg-Altona hat kürzlich einen Antrag von ihr verabschiedet, in dem die FDP-Politikerin das Jugendamt dazu auffordert, der Aufsichtspflicht gegenüber zwei Einrichtungen des Trägers Sternipark „mit besonderer Sorgfalt“ nachzukommen. Eine davon ist das neue Kinderschutzhaus in der Planckstraße im Stadtteil Ottensen. Hier sei das Anhörungsrecht des Bezirks ausgehebelt worden und die Sozialbehörde habe die bezirklichen Fachausschüsse „nicht, nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend“ beteiligt, so der Antrag.

Bereits im Oktober ist das „Kleinkinderhaus Altona“ in den oberen Etagen einer Kita eröffnet worden. Erst Anfang Januar erfuhren die Abgeordneten des Jugendhilfeausschusses eher per Zufall von der Sozialbehörde davon, so berichtet es der CDU-Bezirkspolitiker Sven Hielscher. „Die Einrichtung ist schon umgebaut und in Nutzung genommen worden, bevor der Bauausschuss dies abschließend beraten hat“, sagt Hielscher. Das sei „systemische Anarchie.“

Hoher Bedarf an neuen Plätzen

Die neue Einrichtung wird dringend benötigt, das wird in einem Brief deutlich, den Behörden-Staatsrat Tim Angerer am 11. Januar dieses Jahres an die Vorsitzende der Bezirksversammlung schrieb. Denn die sechs städtischen Kinderschutzhäuser des Landesbetriebs Erziehung (LEB) für Kinder von null bis sechs Jahren mit insgesamt 74 Plätzen seien nahezu durchgehend ausgelastet, teilweise überbelegt. Der LEB schrieb bereits Ende 2022 in seinem Jahresbericht, dass er in 2023 weitere Häuser brauche. Doch ein Neubau in Bergedorf wurde nicht rechtzeitig fertig.

Wohin mit den Kindern?

Das Jugendamt muss ein Kind laut § 42 Sozialgesetzbuch VIII in Obhut nehmen, wenn es darum bittet oder eine dringende Gefahr für das Wohl droht. Die Kinder und Jugendlichen müssen dann je nach Alter und Bedarf untergebracht werden.

Der Hamburger Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) betreibt in der Stadt aktuell sechs Kinderschutzhäuser für das Alter 0 bis 6 Jahre und vier Kinderschutzgruppen für 6- bis 12-Jährige. Wegen des hohen Bedarfs wird noch im Februar ein neues Kinderschutzhaus mit 22 Plätzen in Bergedorf eröffnet.

Eine § 34er Hilfe ist eine betreute Wohnform für Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht.

In familienanalogen Wohngruppen leben die Betreuenden mit bis zu fünf Kindern und Jugendlichen in einem Haushalt und sind bei einem Träger angestellt.

In einer sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft wohnen die Betreuenden ebenfalls mit bis zu fünf Kindern und Jugendlichen zusammen, tun dies aber eigenverantwortlich. In Hamburg fehlt für Neugründungen aktuell eine Gesetzesgrundlage, gleichwohl werden Anträge geprüft.

In einer Bereitschaftspflege nimmt eine Familie in einer Notsituation bei sich auf. Die Hauptbetreuungsperson ist nicht berufstätig und bekommt ein Pflegegeld.

Da erscheint nur hilfreich, dass die Sternipark GmbH im Oktober das Kleinkinderhaus mit 17 Plätzen für Kinder von null bis sechs Jahren eröffnete, welches laut Sozialbehörde aktuell schon mit 15 Kindern belegt ist. Laut Träger wurde der Antrag beim Bezirksamt Ende Juli gestellt. Die Einrichtung in der Planckstraße habe man kurzfristig in Betrieb genommen, um auswärtige Unterbringung und Trennung von Geschwistern zu verhindern, teilt die Behörde mit.

Doch im Jugendhilfeausschuss Altona, der vom Bauausschuss fachlich zu Rate gezogen wurde, gibt es Bedenken über die Betreuungsform: Die Einrichtung wird laut Sozialbehörde nicht als siebtes Kinderschutzhaus betrieben, sondern als normale stationäre Wohngruppe. In der könnten – so wie an jedem dafür geeigneten Ort – auch Kinder in Obhut genommen werden (siehe Kasten). Laut Behörde waren Stand 31. Januar vier der fünfzehn Kinder im Kleinkinderhaus Altona in Obhut genommene Kinder.

Es sei eine Art „Mischlösung“, sagt dazu Yohanna Hirschfeld, die jugendhilfepolitische Sprecherin der Grünen im Bezirk. Üblicherweise würden Babies und Kleinkinder unter sechs Jahren in familienähnlichen Angeboten betreut – also in Pflegefamilien, familienanalogen Wohngruppen oder einer Sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft, sagt Hirschfeld. In diesen Betreuungsformen sind die Bezugspersonen rund um die Uhr anwesend. Im Kleinkinderhaus Altona aber arbeitet das Personal im Schichtdienst. Das bestätigt auch die Behörde.

„Wir können das inhaltlich nicht mittragen“, sagt dazu Yohanna Hirschfeld. Schichtdienst für diese Altersgruppe sei in Hamburg in einer dauerhaften Unterbringungsform eine Neuigkeit, so die Grüne Bezirksabgeordnete. Diese Form sei bei den Kinderschutzhäusern des LEB, wo die Kinder nur vorübergehend in akuten Notlagen wohnen, als notwendig zu tolerieren. Für die Betreuung in dauerhaften Wohneinrichtungen sei es aber in Hamburg bisher „nicht üblich“. Zudem seien die beiden Gruppen mit je acht und neun Kindern zu groß.

Überschaubare Gruppen empfohlen

„Ich finde es nachvollziehbar, wenn die Stadt ein neues Kinderschutzhaus hat, in dem Kinder auch mal nach Paragraf 34 länger bleiben können“, sagt Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften. „Doch umgekehrt eine Wohngruppe für die jüngsten Kinder von Vornherein im Schichtbetrieb in großen Gruppen zu organisieren, ist ein Irrweg.“ Er verweist auf die Empfehlungen der Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe, die hierzu ein Forschungsprojekt beauftragt hatten: „Eine dauerhafte Betreuung dieser Altersstufe in Gruppenangeboten mit Wechselschicht wird fachlich nicht getragen“, heißt es dort. Müsse es dennoch Schichtdienst geben, dann „in überschaubaren Gruppensettings mit maximal sechs Plätzen.“

Der Träger erklärte zur Frage, ob es sich bei der Einrichtung um ein Kinderschutzhaus handelt: „In dem Gebäude in der Planckstraße werden zwei Stockwerke für die Rund-Um-die-Uhr-Betreuung für Kinder bis 6 Jahre vorgehalten. Weitere Angaben können wir zum Schutz der Kinder nicht machen.“

Die taz fragte die Sozialbehörde, ob hier ein für Hamburg neuer Angebotstypus geschaffen wurde, bei dem Kinder in dauerhaften Wohngrupen im Schichtdienst betreut werden? Ihr Sprecher verneinte dies: „Es gibt bereits Einrichtungen mit entsprechender Gruppengröße für diese Zielgruppe, die im Schichtdienst betreut werden.“ Eine Gruppengröße von acht oder neun Plätzen sei „durchaus üblich und angemessen“, sie orientiere sich an der Gebäudegröße sowie an dem vorgehaltenen Fachpersonal.

Allerdings blieb im Laufe unserer Recherchen unklar, wo es diese Gruppen gibt. Alle im Jahresbericht aufgeführten Wohngruppen des LEB nehmen Kinder erst ab sechs Jahren auf. Lediglich die besagten sechs städtischen Kinderschutzhäuser betreuen jüngere Kinder im Schichtdienst, allerdings ist dort die Betreuung nicht auf Dauer angelegt.

Stadtnähe von Vorteil für Elternkontakt

Der Soziologe und Studien-Autor Wolfgang Hammer sieht indes in dem Kleinkinderhaus auch Chancen. „Dass Kleinkinder nicht im Schichtdienst betreut werden sollten, ist fachlich nicht haltbar“, sagt er. Auch dort könne die Betreuung so organisiert werden, dass Kinder drei bis vier verlässliche Bezugspersonen haben. „Dass es nur eine Pflegemutter geben muss, die sich rund um die Uhr um ein Kind kümmert, ist wissenschaftlich nicht belegt. Kinder wurden früher in Großfamilien schon immer von mehreren Menschen betreut.“

Hammer sieht eine Kindeswohlgefährdung jedoch darin, dass die Ämter Kinder zu häufig in Obhut nehmen, was ein dramatischer Eingriff sei. Auch werden laut Hammer die Chancen, dass Kinder zu ihren Eltern zurückkehren können, unterschätzt. Komme ein Kind in eine Pflegefamilie oder werde weit weg von Hamburg untergebracht, sei die Gefahr, dass ein Kind nicht zurückkomme oder die Rückkehr unvorbereitet erfolge, um so größer. „Deshalb finde ich den Ansatz von Sternipark sehr gut, in Altona eine Einrichtung für Kleinkinder zu schaffen, die in der Stadt liegt und mit den Eltern intensiv zusammen arbeitet“.

Er stehe mit der Leiterin von Sternipark im Austausch und wisse, dass dieser schon viele Erfahrungen mit Inobhutnahmen in Schleswig-Holstein hat, in denen die Arbeit mit der Herkunftsfamilie „erfolgreich geleistet wird“. Sternipark selber verweist auf seine betreuten Wohnformen für Mütter/Väter mit Kindern. Man habe „Erfahrungen in der Kleinkindbetreuung rund um die Uhr“.

Tilman Lutz bleibt indes dabei, dass er die Schichtdienstbetreuung für Babies und Kleinkinder problematisch findet. „Der Vergleich mit Großfamilien trägt meines Erachtens nicht, da dort die Kinder nicht aus ihrem gewohnten Umfeld herausgenommen wurden.“

Yohanna Hirschfeld sagt zu Hammers Argumenten: „Ich glaube nicht, dass die Ursprungsfamilie für alle diese Kinder am besten ist.“ Auch wenn man den emotionalen Wert der eigenen Familie nicht ersetzen könne, bräuchten diese Kinder familienähnliche Gruppen, die ihnen eine andere Gefühlsgrundlage geben und eine verlässliche Beziehungserfahrung vermitteln.

Jugendhifeausschuss nimmt Stellung

„Ich stimme überein, dass es zu viele Inobhutnahmen gibt“, sagt Ronald Priess von der Landesarbeitsgemeinschaft Kindheit und Jugend der Linkspartei. Aber auch er hält Betreuung im Schichtdienst für Null- bis Sechsjährige für nicht gut. Eine Alternative wären für ihn Bereitschaftspflegeeltern, die kleine Kinder vorübergehend in ihrem Haushalt aufnehmen. „Die müsste man nur besser ausstatten.“

Am Mittwoch Abend hat der Jugendhilfeausschuss Altona eine Stellungnahme verabschiedet, die Hirschfelds Bedenken aufgreift und am kommenden Donnerstag im Hauptausschuss der Bezirksversammlung auf der Tagesordnung steht.

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3 Kommentare

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  • Wäre es in Deutschland einfacher, ein Kind zu adoptieren, gäbe es dieses Problem nicht. Hier muss man Millionär sein um ein Kind aufnehmen zu dürfen. Eine normale Familie im Mittelstand ist nicht befugt ein Kind aufzunehmen. Würde es gerne tun! Habe selbst 2 Kinder und würde gerne einem Kind ein neues Zuhause und Liebe geben. Dieses Land ist so furchtbar bürokratisch! Hauptsache andere unterstützen! Aber die eigenen Kinder und Rentner gucken in die Röhre... schämt euch, ihr Politiker! Pfui!

    • @Sanella Meier:

      Hätten Sie lieber, dass Kinder ohne Einwilligung der leiblichen Eltern zur Adoption freigegeben werden können? Dass Menschen ohne eingehende Prüfung ihrer Eignung oder Absichten adoptieren können? Es geht ja nicht nur um Geld...strenge Gesetze schützen auch die Kinder und die Eltern.



      Sie können sich doch auch um ein Pflegekind kümmern, wenn Adoption nicht klappt.

    • @Sanella Meier:

      Diese Probleme gäbe es auch, wenn es einfacher wäre, Kinder zu adoptieren. Stationäre Unterbringungen bedeuten (fast) nie, dass die Eltern auch einer Adoption zustimmen würden. Zwangsadoptionen sind aus guten Gründen in diesem Land illegal. Die Zahl der ungewollt geborenen Kinder sinkt glücklicherweise seit Jahrzehnten, d.h. das klassische Waisenkind ist sehr selten geworden.

      Was dringend gesucht wird, sind Pflegefamilien. Auch hier ist die Prüfung sehr umfangreich - und zwar vor allem deshalb, weil in Hamburg schon Kinder gestorben sind, weil die Familien nicht ausreichend geprüft wurden.



      Einfach mal bei Google "Chantal" und "Jugendamt Hamburg" eingeben, dann wird schnell klar, warum so umfangreich geprüft wird.