Sprachverbote in Russland: Worüber man nicht mehr spricht

In Russland werden Wörter verboten und durch neue ersetzt. Literatur gilt als extremistisch und landet auf dem Index. Was macht das mit der Sprache?

Menschen versammeln sich in St.Petersburg um Navalny zu gedenken

Ob Blumen oder Worte: Jeder Protest kann in Russland ins Gefängnis führen Foto: reuters

MOSKAU taz | Dass man Worte oder Wortkombinationen durch andere ersetzt, kam in der russischen Sprache schon früher vor. Sprache lebt vom Spiel mit sich selbst und der sie umgebenden Realität, von Witz und Selbstironie. Doch genauso oft lärmt und kocht sie vor Wut, wie alles Lebendige. Aber egal, hier geht es um einen völlig anderen, aus dem bürokratischen Neusprech hervorgegangen Sprach­ersatz, entlehnt der orwellschen Ausdrucksweise russischer Staats­die­ne­r*in­nen und der sie nachahmenden Propagandamedien.

Wie hört sich das an: „Knall“ statt „Explosion“, „negatives Wachstum“ statt „wirtschaftliche Rezession“, „Auftriebsverlust“ statt „Schiffsuntergang“? Klingt stellenweise richtig elegant, eben „mit Verstand gemacht“, wie es in einem alten Werbeslogan hieß. Zu den „unschuldigen Spielereien“ bürokratischer Gesinnung kam vor nun zwei Jahren die „militärische Spezialoperation“ hinzu. Wer den Krieg im heutigen Russland als Krieg bezeichnet, läuft Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden. Nur für das Wort „Mord“ gibt es bislang keinen Ersatz. Vielleicht sind deshalb Morde kaum mehr Thema. Insbesondere, wenn es um die Ermordung Alexei Nawalnys geht, des Oppositionspolitikers Nummer eins.

Verboten sind in Russland nicht nur das Wort „Krieg“ oder „Falschdarstellungen der Armee“ – also von den offiziellen Meldungen des russischen Verteidigungsministeriums abweichende Informationen und Meinungen. Verboten sind gleich ganze soziale Netzwerke, die bis 2022 als Austauschplattformen dienten: X, ehemals Twitter, Facebook und Instagram. Einloggen geht nur mithilfe eines VPN-Tunnels. Der ist übrigens auch zum Lesen vieler tausend Webseiten nötig, die nicht von oben abgesegnete Nachrichten und Meinungen publizieren.

Dafür gibt es sogar eine extra Wortschöpfung – „Verbotsgram“ statt Instagram. Denn Instagram gehört dem Unternehmen Meta, das in Russland als extremistisch eingestuft und verboten ist. Zweifellos kann man sagen, dass die Sprache sich verändert. Doch damit würde noch Wesentlicheres ungesagt bleiben. Nämlich, dass Anwendungsmöglichkeiten der Sprache stark reduziert sind. Gemeint ist, dass über viel zu vieles auf der Straße, im Bus, bei der Arbeit nicht mehr geredet wird. Übrigens auch nicht bei privaten Feiern, egal ob in der Kneipe oder zu Hause. Man kennt sicher nicht alle Gäste, manche hat man noch nie gesehen, womöglich meldet jemand der Polizei, worüber gesprochen wurde?

Aus Angst keine Witze mehr erzählen

Wenn man sogar in kleineren Gruppen weniger spricht, heißt das dann nicht auch, dass bestimmte klare Formulierungen, Schlussfolgerungen oder sogar Gedankengänge einem gar nicht mehr in den Sinn kommen? Wie läuft das eigentlich in unfreien Gesellschaften ab? Die Älteren erzählen manchmal von der Sowjetunion. Dabei erinnern sich nur die wenigsten gut an damals. Denn das Leben der überwiegenden Mehrheit im Land war nicht geprägt von Geist und Worten, sondern von Sorgen um Lebensmittel, die Familie, die Kinder.

Und es ist menschlich, in einem Land, in dem Menschen für einen Witz eingesperrt werden, weil jemand sie denunziert hat, einfach aufzuhören mit dem Witzeerzählen. Und Zusammenkünfte zu vermeiden, wo jemand „gefährliche“ Witze zum Besten geben könnte. Auch jetzt werden Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten zu demonstrativ hohen Haftstrafen zwischen 7 und 18, 19 Jahren verurteilt, damit nicht nur Gebildete in den Großstädten Angst haben. Auch der einfache Arbeiter vom Dorf soll Angst haben. Und die Putzfrau in der Kantine, wo er zu Mittag isst. Die Krankenschwester, die ihm den Arm nach einem Arbeitsunfall verbindet.

Die Smartphone-Revolution der 2010er Jahre, eine der Voraussetzungen für die Protestwelle von 2011/2012 gegen Manipulationen bei den Duma-Wahlen, sorgt als Langzeitfolge für die rasche Ausbreitung von Angst und Schweigen.

Menschen der älteren Generation können sich sicher noch daran erinnern, wie sie Rückhalt in Büchern fanden. Inzwischen werden Werke missliebiger Au­to­r*in­nen massenweise aus Bibliotheken und dem Handel entfernt. Am 20. Februar wurde bekannt, dass ein großer Online-Händler seiner Belegschaft eine Liste mit 252 Buchtiteln zukommen ließ, die aus dem Verkauf genommen werden sollen. Der Grund: Teile des Inhalts ließen sich als „LGBT-Propaganda“ auslegen.

Im Gefängnis landet jeder letztlich allein

Wahrscheinlich war das nicht mal eine direkte staatliche Anweisung, sondern vorauseilender Gehorsam. Ich nenne einfach mal ein paar dieser Bücher: „Das Gastmahl“ von Platon, „Das Dekameron“ von Giovanni Boccaccio, „Die Nonne“ von Denis Diderot, „Njetotschka Neswanowa“ von Fjodor Dostojewski, „Die Falschmünzer“ von André Gide, „Orlando“ von Virginia Woolf, „Die Gewinner“ von Julio Cortázar, „Es“ und „Doctor Sleep“ von Stephen King und nicht zuletzt „Marinas dreißigste Liebe“ von Vladimir Sorokin sowie sein neuester Roman „Nasledie“.

Über den in der Endphase der Sowjetunion entstandenen Roman „Marinas dreißigste Liebe“ würde ich gern ein paar Worte verlieren. Es geht darin um eine gewöhnliche junge Frau, politisch völlig unbedarft, dafür fleischlichen Lüsten nicht abgeneigt. Sie ist zu einem echten Propaganda-Opfer mutiert und verliert dabei ihre Persönlichkeit. Sorokin gelingt das Kunststück, diese Wandlung anhand von Marinas Sprache aufzuzeigen, die zunächst ihre persönliche Färbung verliert und am Ende jeglichen Sinn. Sie löst sich komplett auf. Das hat Symbolwert.

Kurzum, die Erfahrung sowjetischer Vorfahren hat selbst dann, wenn sie persönlich übermittelt wird, wenig Lehrreiches zu bieten für jene, die heutzutage vor Angst zittern. Jeder stirbt für sich allein. Auch im Gefängnis landet jeder und jede letztendlich allein.

Apropos, wo wir gerade beim Gendern sind. Mit Feminitiven tut sich die russische Sprache schwer. Manche gehören schon seit 100, 150 Jahren zum allgemeinen Sprachgebrauch, über andere gab es noch unlängst Streit. Dabei ging es auch um die rein philologische Frage, welche weibliche Endung zu präferieren sei. Nun jedoch, wo Ende 2023 das oberste Gericht Russlands darauf verwies, dass Feminitive ein Wesensmerkmal der als extremistisch eingestuften und darum verbotenen „internationalen LGBT-Bewegung“ seien, denkt man darüber nach, ob es noch angebracht ist, jahrhundertealte weibliche Sprachformen zu nutzen, wie zum Beispiel das Wort „Freundin“.

Sorgen um die Sprache

In den vergangenen Monaten hat der russische Staatsapparat so lautstark seine Furcht vor dem dritten, vierten und weiß Gott welchem weiteren Geschlecht verkündet, dass am Ende in der Alltagssprache womöglich nur noch ein Geschlecht überlebt – das männliche.

Haben wir es also inzwischen mit einer Sprach-Mumie zu tun, von der heute nur noch eine leere Hülle existiert? Oder ist die Sprache noch lebendig? Bislang hält sie sich in unzensierten russischen Publikationen und in Blogbeiträgen, die außerhalb Russlands geschrieben werden, am Leben. Und auch im Land selbst lebt sie noch, zum Beispiel in Form von unter engsten Freun­d*in­nen erzählten Witzen.

Trotzdem mache ich mir Sorgen um die Sprache: Zu viele Menschen achten auf sie. Sowohl jene, die sie einfach nutzen, als auch die Silowiki, die Leute aus dem Sicherheitsapparat, die in den vergangenen Jahren auf den Geschmack gekommen sind, Menschen ihrer Worte wegen einzusperren. Und wo es derart viele Auf­pas­se­r*in­nen gibt, behält womöglich ein altes russisches Sprichwort recht: „Hüten sieben Frauen ein Kind, bleibt es ohne Aufsicht.“

Aus dem Russischen von Varvara Korotilova

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.