Romane vom Niederländer J. J. Voskuil: Clash zwischen Neu und Alt
Berühmt ist J. J. Voskuil für sein Mammutwerk „Das Büro“. Auf Deutsch erschien nun auch sein sehr lesenswerter Roman „Die Nachbarn“.
In den Niederlanden mit ihren 17 Millionen Einwohnern ist der 2008 verstorbene Schriftsteller J. J. Voskuil eine literarische Ausnahmeerscheinung. Sein siebenteiliger, rund 5.200 Buchseiten starker Roman „Das Büro“ über das Berufsleben seines Alter Ego Maarten Koning am Amsterdamer Institut für Volkskunde, an dem auch Voskuil drei Jahrzehnte tätig war, erschien zwischen 1996 und 2000 und verkaufte sich über 500.000 Mal.
Bei jeder Veröffentlichung eines weiteren Bandes standen die Menschen vor den Buchhandlungen Schlange. Verfasst hat Voskuil das Mammutwerk nach seiner Pensionierung 1987 in nur vier Jahren. Der schier unfassbare Erfolg der Reihe liegt auch darin begründet, dass sie mehr ist als „nur“ ein Roman über das Leben eines einzelnen Mannes, der sich tagein, tagaus mit den zahllosen Ärgernissen und Sonderbarkeiten des Berufsalltags herumschlägt. Sie ist zugleich auch eine feinsinnige literarische Chronik des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den Niederlanden, aber auch darüber hinaus.
Der Berliner Verbrecher Verlag veröffentlichte die „Büro“-Serie von 2012 bis 2017, übersetzt von Gerd Busse, dem es auch weiterhin gelingt, die einzigartige Schlichtheit und Lakonie der Voskuil’schen Prosa für das deutschsprachige Publikum zu bewahren. Voskuils Werk beschränkt sich nicht auf „Das Büro“.
Das Private im Mittelpunkt
Daneben hat er, ebenfalls im Ruhestand, vier weitere Romane geschrieben, die allesamt im „Büro“-Kosmos angesiedelt sind, aber auch losgelöst davon gelesen werden können. 2021 hat der Wagenbach Verlag mit „Die Mutter von Nicolien“ den ersten dieser Satellitenromane veröffentlicht. Darin geht es um die allmählich sich entwickelnde Demenzerkrankung von Maartens Schwiegermutter.
Auch im soeben erschienenen Roman „Die Nachbarn“ steht das Private im Mittelpunkt. Das Buch ist in den 80ern angesiedelt, große Teile spielen in der Amsterdamer Wohnung der Konings. Die Geschichte setzt ein, als mit Petrus und Peer ein homosexuelles Paar ins Haus einzieht. Während Nicolien auf Anhieb angetan ist von den „richtig netten Jungs“, betrachtet Maarten die „zwei etwas zu groß geratenen Wichtelmännchen“ mit Argwohn.
Dennoch entwickelt sich ein reger sozialer Austausch, der von gemeinsamen Abendessen und Radtouren bis zu Besuchen im Urlaub reicht. Vor allem mit Peer, rund 30 Jahre jünger als der bereits 67-jährige Petrus, verbindet Nicolien alsbald eine Freundschaft, die sowohl Maarten als auch Petrus mit scheuer Distanz verfolgen. So viel zwischenmenschliche Nähe ist den beiden Eigenbrötlern suspekt; am Zeitungsstand und im Gemüseladen nickt man sich allenfalls distanziert zu.
J. J. Voskuil: „Die Nachbarn“. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. Wagenbach Verlag, Berlin 2023, 304 Seiten, 26 Euro
Findet Maarten die neuen Nachbarn anfänglich lediglich „nicht interessant“, wächst seine Ablehnung mit der Zeit. Peer, ein von Sozialhilfe lebender Künstler, der gerne Zäune und tote Tiere fotografiert und erotische Männerbilder malt, hält er für einen „debilen Idioten“; Petrus attestiert er Demenz und humorlose Überheblichkeit.
Hochkochende Emotionen
Maartens Abneigung ist für Nicolien unfassbar und führt zu heftigen Auseinandersetzungen. Während Nicolien Maarten Homophobie attestiert, die er von seiner Mutter geerbt habe, dreht Maarten das Argument kurzerhand um. Er beschuldigt Nicolien, Petrus und Peer nur deswegen zu mögen, weil sie homosexuell seien – grundsätzlich rühre ihre demonstrative Sympathie für Minderheiten daher, dass sie dadurch den Antisemitismus ihrer Mutter zu kompensieren suche.
Kein Wunder, dass die Emotionen mehr als einmal im Romanverlauf hochkochen und Nicolien sogar damit droht, Maarten vor die Türe zu setzen. Dabei liegen beide mit ihrer Einschätzung jeweils nicht ganz falsch. Als Petrus und Peer davon berichten, auf der Straße als „dreckige Schwuchteln“ beschimpft worden zu sein, hält Maarten die Aufregung darüber für ein „Sandkastendrama“.
Eine freizügige Demonstration von Homosexuellen im Rathaus in Groningen für Gleichberechtigung, von der die Zeitung berichtet, empfindet er als exhibitionistisch. Generell provoziert das „Schwadronieren über Menschen, die diskriminiert werden“, seinen Widerspruch, da er dahinter vermutet, dass sie „sich in den Vordergrund drängen“. Für Nicolien hingegen sind Peer und Petrus gesellschaftliche „Underdogs“, die es ihr Leben lang schwer gehabt hätten.
Ihr behagt zudem die vermeintlich unkonventionelle Lebensweise der beiden. Dass Petrus niemals zweiter Klasse reist, einen Rassehund dem Mischling aus dem Tierheim vorzieht und den angebotenen Genever als Arbeitergetränk zurückweist, irritiert sie zwar, vermag ihr positives Bild aber vorerst nicht zu trüben.
Wichtiger Baustein fürs literarische Gesamtkunstwerk
Ihre Wut richtet sich vielmehr gegen Maarten, unterstellt ihm, die einstigen gemeinsamen linksliberalen Ideale verraten und sich satt und bequem im bürgerlichen Leben eingerichtet zu haben – ein Vorwurf, den „Das Büro“-Leser allzu gut kennen.
Das Auseinanderbrechen der Vierer-Freundschaft entwickelt sich schleichend. Dazu trägt bei, dass Petrus den verdutzten Maarten bei einer Diskussion über den Film „Shoah“ (Claude Lanzmann, 1985) pauschal als Antisemiten brandmarkt; und Peer, dessen psychische Labilität immer offenkundiger wird, ihn wegen eines Missverständnisses beschimpft.
Der eigentliche Schockmoment für Nicolien ist erreicht, als die beiden Nachbarn die Katzen der Konings in deren Urlaub mutwillig verwahrlosen lassen – obwohl sich Nicolien immer hingebungsvoll um deren mosambikanischen Papagei gekümmert hat. Geht es gegen Tiere, hört sogar bei Nicolien die Freundschaft auf.
Mit „Die Nachbarn“ wird das literarische Gesamtkunstwerk Voskuils um einen wichtigen Baustein bereichert. Wie für alle seine Bücher gilt auch hier: Was vordergründig lustig oder skurril wirkt, ist letztlich der fortdauernde Konflikt zwischen neuen und alten Ideen, einer neuen und alten Generation. Das Wechselspiel von statischen und dynamischen Gesellschaftselementen ist ein Grundmotiv der Voskuil’schen Gedankenwelt.
Dazu gehört auch die Sprache seiner Protagonisten, die stets zeitgebunden und dem Wandel unterworfen ist. Das Wagenbach-Lektorat hat das glücklicherweise beibehalten. Nachträgliche Tilgungen solcher historischen Begriffe wie „Schwuchtel“ wären sicher nicht in Voskuils Sinn gewesen. Im sechsten „Büro-Band“ legt er Maarten anlässlich dessen Abschied in den Ruhestand in den Mund: „Jede Generation legt den Fakten ihr eigenes Geschichtsbild zugrunde, um daraus anschließend die Sicherheit zu schöpfen, dass dieses richtig ist.“
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