Neues Riotgrrrl-Album von Sleater-Kinney: Trauerarbeit beim Weiterschrammeln
US-Riotgrrrl-Duo Sleater-Kinney veröffentlicht das neue Album „Little Rope“, es hilft Musikerin Carrie Brownstein, eine Familientragödie zu meistern.
Einschneidende Erlebnisse können ein Leben aus den Angeln heben. Etwa wenn nahestehende Menschen völlig unerwartet sterben. Diesen Albtraum machte US-Musikerin Carrie Brownstein durch, während sie mit Corin Tucker in der Produktion des Albums „Little Rope“ ihrer Band Sleater-Kinney steckte. Im Herbst 2022 bekam die 49-Jährige eine Hiobsbotschaft: Mutter und Stiefvater waren im Urlaub in Italien tödlich verunglückt.
Obwohl der Schock tief saß, war es für Carrie Brownstein keine Option, die Aufnahme inklusive der fünf bereits existierenden Songs auf Eis zu legen. Im Gegenteil, Musik wurde zum Rettungsanker, Brownstein spielte wie besessen Gitarre. Stundenlang. Auf diese Weise erinnerte sie sich daran, dass ihre grundlegenden motorischen Fähigkeiten nicht verloren gegangen waren. Trotz ihres seelischen Schmerzes war sie in der Lage, als Künstlerin weiter zu existieren.
Zwangsläufig wurde Carrie Brownsteins Kummer zur Inspirationsquelle für alle weiteren Songs von Sleater-Kinney. Brownstein und Corin Tucker fragten sich: Wie geht man mit Trauer um? Was verändert sie in einem? Schließlich verheilt Seelenkummer nicht einfach so wie ein gebrochener Arm.
Nicht um den heißen Brei reden
An dieses Lebensthema wagt sich Sleater-Kinney gleich beim Eröffnungsstück „Hell“ heran. In den Zeilen „I pull myself in pieces / Pull myself apart / It's like looking in a mirror / And seeing a stranger looking back“ entspinnt sich Carrie Brownsteins Seelenqual ohne Umschweife.
Sleater-Kinney: „Little Rope“ (Loma Vista/Concord)
Der Songtext stellt Verwundbarkeit zur Schau und blendet dabei wie eine nackte Glühbirne: In der Musik bricht nach dem ruhigen Prolog ein Gitarreninferno los. Dynamisch geschrammelten Indie-Rock bringen die beiden Musikerinnen seit jeher in ihre Songs ein. Der Lärm lässt sie nicht bloß ihre Pein vergessen, sie zollen damit zugleich ihrer eigenen Vergangenheit Tribut.
Nicht ohne Grund hoben sie 1994 Sleater-Kinney, benannt nach einer Straßenkreuzung, mit der Drummerin Janet Weiss in Olympia im US-Bundesstaat Washington aus der Taufe. Die Kleinstadt galt damals als Epizentrum der Riot-Grrrl-Bewegung. Und Sleater-Kinney-Stücke liefern immer eine Idee davon, wofür sich die Band, die 2019 schließlich zum Duo schrumpfte, starkgemacht hat – für punkige Rockmusik mit feministischer Haltung. Ihre Songs waren von jeher Statements für Gleichberechtigung und gegen Sexismus.
Lauernde Abgründe
Diesmal muss das zivilgesellschaftliche Engagement allerdings den emotionalen Befindlichkeiten weichen. Songs wie „Needlessly wild“ winden sich düster, wenn es um Wesentliches geht: Vergänglichkeit, Verletzlichkeit und letztlich Machtlosigkeit. Vom aufgepeitschten „Don't feel right“ sollte man sich nicht auf eine falsche Fährte locken lassen, hinter der rauen musikalischen Oberfläche lauern Abgründe. Inhaltlich kreist die Nummer um Einsamkeit, um die Sehnsucht nach etwas, das unwiederbringlich vergangen ist.
„Hunt you down“ hat eigenwilligen Rocktouch. Dahinter steckt die Erkenntnis: Das, was wir am meisten fürchten, wird uns zur Strecke bringen. „Small Finds“ klingt fast wie ein Ableger aus der Garbage-Frühphase. Kein Wunder: Sängerin Shirley Manson zählt zu jenen Künstlerinnen, die Carrie Brownstein und Corin Tucker aufrichtig bewundern.
„Six Mistakes“ besticht mit seiner Rohheit, Corin Tucker positioniert sich hier mühelos als Punk-Frontfrau. Der Reiz von „Crusader“ liegt aber in seinen Gegensätzen – mal klingt es eingängig, mal aufwiegelnd.
Aufruf, den Schmerz zu vergessen
Was beim Hören sofort ins Ohr geht: In diesem Song steckt gewisser Optimismus, wenn Corin Tucker im Songtext dazu aufruft, den Schmerz zu vergessen. Sleater-Kinney ist mit den zehn Songs von „Little Rope“ auf jeden Fall ein Gegenentwurf zur Schneller-höher-weiter-Mentalität gelungen.
Seine Musik spendet Trost: Für diejenigen, die in einer Sackgasse gelandet sind und nicht weiterwissen. Denn Sleater-Kinney erinnern nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Zuhörer:innen daran, dass das Leben irgendwie weitergehen muss. Unabhängig davon, wie übel es einem mitgespielt hat.
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