Aktivist über den Wert der Provokation: „Das Schlimmste ist, egal zu sein“
Provokation ist kein Selbstzweck, aber ohne sie gibt es keine erfolgreiche politische Aktion, sagt der Aktivist, Trainer und Autor Jörg Bergstedt.
taz: Jörg Bergstedt, erinnern Sie sich noch, wogegen Sie selbst das erste Mal protestiert haben?
Jörg Bergstedt: In der Umweltbewegung, die Ende der 1970er-Jahre entstand, war ich als Jugendlicher aktiv. Damals war das Hauptthema Arten- und Biotopschutz – und das war, was ich als Erstes viel gemacht habe. Das würde man heute wohl gar nicht mehr als Aktion bezeichnen, jedenfalls nicht als Aktivismus. Da hat man Bäche renaturiert, Hecken gepflanzt und so weiter. Wir waren damals 14-Jährige, haben eine Jugendgruppe gegründet und richtig viel Landschaft umgekrempelt.
Hatte das auch provokante Anteile?
Am Anfang waren wir so was wie everybody's darling. Alles geschah im dörflichen Rahmen unter hoher Beteiligung von den Kindern und Jugendlichen. Denen wurde dort ja auch nur wenig anderes geboten. So waren selbst die Kinder von Bürgermeister:innen und so dabei. Irgendwann haben wir einen durch die Dörfer fließenden, ziemlich verdreckten Bach genau untersucht, wer wo was da hineinleitet, und das haben wir veröffentlicht – das war ein Game Changer.
Einleuchtend, dass eine Aufräumaktion an einem Flussufer da weniger Anstoß erregt.
Die Qualität einer Aktion hängt von der Vermittlungsebene ab. Wenn ich zwar sage, dass zu viel weggeworfen wird, aber nicht auch thematisiere, dass der Müll vorher ja produziert worden ist, und auch das ein Problem ist, dann bin ich in einem unpolitischen Raum unterwegs. Am Ende werfen die Leute vor so einer Aktion noch was weg, weil sie denken: Es wird ja aufgeräumt. Es ist ein bisschen so wie das viel diskutierte Containern bei Supermärkten.
Wie das?
Das bezeichnen viele als politische Handlung, aber ich sage: Eine politische Handlung wäre es erst dann, wenn ihr das nachts gerettete Zeug am nächsten Morgen im Eingang des Ladens platziert und eine Aktion daraus macht. Solange ihr nachts einfach nur was holt … gut, das hat auch seinen Wert. Aber die politische Aktion entsteht erst durch die öffentliche Vermittlung. Und die Qualität der öffentlichen Aktion entsteht durch die Qualität ihrer Vermittlung.
seit über 45 Jahren Vollzeitaktivist, ferner Journalist und Autor zu Umweltthemen und politischer Theorie. Beteiligung u.a. an den Besetzungen von Hambacher Forst und Dannenröder Wald und an Aktionen gegen Gentrifizierung und Gentechnik. Bergstedt schult politische Aktivist*innen in Aktions- und Gerichtsprozesstrainings, unterstützt als Strafverteidiger politische Angeklagte und kommentiert auf seinem Youtube-Kanal „Hirnstupser“. Seine neuesten Bücher sind das „Anti-Auto-Aktionsbuch“ (SeitenHieb-Verlag) und „Provoziert!“ (Büchner-Verlag).
Welche Rolle spielt dabei die Provokation?
Die Funktion der provokanten Aktion ist, Aufmerksamkeit zu erregen. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist nicht, dass man gehasst wird – sondern dass die Leute sagen: „Egal“; also Gleichgültigkeit. Aber: Den Aufmerksamkeits- oder auch Erregungskorridor muss ich dann auch mit etwas Qualifiziertem füllen. Sonst hätte ich mir auch all das Provozieren schenken können. Denn dann sind die Leute entweder einfach nur irritiert und wissen nicht, warum das passiert.
Oder?
Was auch ziemlich häufig passiert ist: Jemand anders packt den Inhalt da rein – zum Beispiel die Bild-Zeitung liefert dann eine Interpretation, warum es irgendwo einen Brandanschlag oder „Klima-Kleben“ gegeben hat. Wie so etwas dann dort interpretiert wird, darüber müssen wir nicht ernsthaft diskutieren. Auch die taz macht so was ab und an – es bleibt den Medien aber manchmal auch gar nichts anderes übrig! Wenn politische Gruppen eine Hammer-Aktion fahren, sie aber das Warum nicht vermitteln, dann ist das natürlich auch irgendwie die Schuld dieser politischen Gruppe selbst, dass sie ihr Anliegen nicht transportiert bekommen. Dass Trittbrettfahrer:innen die Aktion einfach für ihre Zwecke benutzen, gibt es übrigens als dritte Variante. Oder eben politische Gegner:innen die Aktion nutzen, um daraus eine genau entgegengesetzte Kampagne zu machen.
Kann es auch zu viel Provokation geben?
Ja, wenn sie in keinem Verhältnis steht zu den Inhalten. In meinem Buch gehe ich auf die Debatten um die Letzte Generation ein – so aktuell, wie das eben geht bei so einer nicht abgeschlossenen Sache. Deren Zuviel an Provokation entsteht nicht dadurch, dass es wirklich zu viel wäre, sondern dadurch, dass es in keinem Verhältnis zu Inhalten steht. Ich finde es immer faszinierend, dass so viele der Letzten Generation vorwerfen, deren Inhalte finde man ja gut, „aber eure Methoden“ halt falsch. Ich sehe das genau umgekehrt: Die Aktionsmethoden sind eigentlich das Beste an der Gruppe – natürlich auch nicht alle immer super. Aber wir machen alle Fehler, und wenn wir viel machen, geht auch mal was schief – geschenkt. Aber was die Letzte Generation inhaltlich vermittelt, ist nur sehr selten ausreichend präzise. Es gibt natürlich auch da Ausnahmen.
Woran denken Sie da?
Ich finde, die Attacken auf Sylt hatten mehr zu bieten, also die im Sommer auf die Reichen, und die Thematisierung dessen, dass das eine Prozent Bevölkerung für 17 Prozent CO2-Ausstoß verantwortlich ist: Daraus hätte man eine geile inhaltliche Kampagne machen können. Ich habe mit der Letzten Generation darüber geredet, ob man eine Aktion macht bei dem – von der Bundesrepublik Deutschland finanzierten – privaten Flughafen des VW-Konzerns in Braunschweig. Da ploppte ja in den Medien auf, dass die Hauptziele die Malediven und Sylt sind. Warum nicht so eine Aktion, wo die Letzte Generation doch ohnehin gerade aktiv war in Braunschweig. Aber diese Kampagne wurde aus mir unerklärlichen Gründen abgebrochen, weil es wohl sehr viel Gegenwind gab und man offenbar Angst hatte, dass das jetzt völlig eskaliert. Nun haben die Reichen ja in der Tat viel zu sagen in dieser Gesellschaft. Aber diese Eskalation hätte wenigstens etwas gehabt: Diese Leute anzugehen statt der Autofahrenden, die ich zwar nicht als unbeteiligt ansehen würde, aber Leute im Berufsverkehr oder so sind natürlich Zufallsopfer. Die Reichen wären als Objekt viel präziser gewesen.
Gern gesagt wird über Die Letzte Generation, dass die Radikalität der Aktionen jede Sympathie verspiele, dass die Organisation also genau dem beanspruchten Anliegen schade. Wissen Sie, ob das empirisch irgendwie fundiert ist?
Interessanterweise habe ich gestern gerade einen Artikel gelesen zur Angst vor Radikalisierung, und da steht tatsächlich genau der dazu passende Satz drin – dass sich nämlich für die immer wieder vorgebrachte Anschuldigung, mit diesen Aktionen würde dem Klimaschutz geschadet, keinerlei belastbare Hinweise finden. Es nehme die Zustimmung in der Bevölkerung zum Klimaschutz dadurch nicht ab, und wo wir auf Ablehnung treffen, hat es die auch früher schon gegeben. Für mich ist eher etwas anderes interessant.
Nämlich?
Mindestens dasselbe Level von Störung wie nun bei der Letzten Generation hat es auch schon bei anderen Aktionen gegeben. Aber die waren besser vermittelt, und so ist dieser Effekt nicht aufgetreten.
Vortrag/Buchvorstellung „Provokante Aktionen und ihre Bedeutung für politischen Protest“:
Mo, 27.11., 19 Uhr, Einbeck, KAZE (Auf dem Steinwege 4)
Di, 28.11., 18.15 Uhr nur online via zoom
Mi, 29.11., 18 Uhr, Lüneburg, Leuphana-Universität Zentralgebäude, Raum C3.120
Do, 30.11., 19 Uhr, Flensburg, AZ Hafermarkt (Heinrichstraße 8)
Workshop „Macht macht Umwelt kaputt – über den Zusammenhang von Herrschaft und Umweltzerstörung“:
Mi, 29.11., 11 Uhr, Hamburg, Tiny House im Campus Melle-Park
Direct-Action-Training
Fr, 1.12., 18 Uhr, bis So, 3.12., 16 Uhr, Flensburg, AZ Hafermarkt
Näheres zu allen Terminen: www.projektwerkstatt.de
Haben Sie ein Beispiel?
Ich selbst gehöre zu den Leuten, die das Abseilen über Autobahnen entwickelt haben, das ist ja so ein bisschen, finde ich, die Vorform der Letzte-Generation-Aktionsformen. Als wir das vor sehr langer Zeit schon einzelfallweise gemacht haben, ist da nicht viel drüber diskutiert worden. Massiv genutzt wurde diese Aktionsform erstmals im Zusammenhang mit der Räumung des Dannenröder Waldes. Aber am schönsten fand ich die Aktion bei der Blockade der Internationalen Automobilausstellung 2021 in München: Da wurden alle Autobahnen, die in Richtung Messegelände führten, durch Abseil-Aktionen geblockt – und die Berichterstattung war super. Sogar die meisten Leute in den Autos haben verstanden, wie das gemeint war. Natürlich haben sich auch welche aufgeregt, aber sie haben gewusst, warum sie in diesem Moment gerade warten mussten, nämlich weil sie auf der zuführenden Autobahn waren, genau zum Zeitpunkt der Messe-Eröffnung. Das war also hervorragend vermittelt. In der Aktion war deren Ziel genau erkennbar, und diese Aktion ist relativ gut weggekommen. Ähnliches gilt auch für die inzwischen mehr als zehn Jahre zurückliegende Auseinandersetzung mit der Agrogentechnik: Felder zu besetzen, auch das dort Angebaute kaputt zu machen, ist ja nicht ohne Empörungspotenzial. Es waren aber immer sehr beliebte Vorgehensweisen, weil dabei einfach klar war: Warum machen wir das, was ist der Zweck. Natürlich fanden es auch Leute schlimm, aber es hat kaum jemand die Aktionsform als unpassend oder unangemessen angegriffen, sondern man hat sich über den Inhalt unterhalten.
Gibt es für sie ganz persönlich Grenzen der Provokation? Ich denke etwa an schiefe historische Vergleiche.
Die Grenze ist so ein bisschen flexibel, nämlich abhängig von dem Grad der Provokation. Man könnte das einfach mit dem Begriff „angemessen“ bezeichnen. Schlechte historische Vergleiche sind aber selbstverständlich einfach immer – schlecht. Da ist es auch völlig egal, wie provokant oder so die Aktion ist. Wenn es nicht passt, dann passt es nicht, und es ergibt auch keinen Sinn. Solche Vergleiche …
… etwa der Massentierhaltung mit dem Holocaust …
… dienen ja der Dramatisierung. Sie sind also eher die Provokation selbst – und es gilt, was immer gilt: Der Inhalt muss passen. Allerdings: Solche Mittel nutzt ja die andere Seite auch. Der Begriff „Klima-RAF“ kommt zwar ursprünglich und dummerweise aus der Klimabewegung selbst – aber er ist enorm bereitwillig aufgegriffen worden von den Gegner:innen. In dieser Hinsicht wird ständig übertrieben. Bei unseren Abseil-Aktionen kam zuverlässig jedes Mal ein Polizist zu uns und sagte, es sei gerade eine Schwangere mit Kleinkind in dem Stau ums Leben gekommen. Das ist natürlich nie wirklich passiert. Also, die Provokation ist die Aktion und dann macht das einen Rahmen auf, und dann muss ich, wenn diese Aufregung nicht schon da ist, nicht noch Zeit verschwenden, indem ich den Leuten noch Anlass biete, sich über den Stil des Gesagten aufzuregen. Nein, ich muss nutzen, dass mir zugehört wird – und dann inhaltliche Qualität bieten. Das ist die Idee der provokanten Aktion.
Und wenn das nicht klappt?
Dann kann man sich immer noch was Neues überlegen. Aber wenn es nicht schiefgeht, hören mir die Leute zu – und ich muss qualifizierten Inhalt bringen. Die Aktion muss halt, wie gesagt, angemessen sein. Wenn ich zum Beispiel eine ganz konkrete Person brandmarken will und ihr konkretes Verhalten, dann finde ich auch ein Torten-Attentat durchaus angemessen – auch wenn es fraglos keine gewaltfreie Aktion ist. Ich stelle in meinen Vorträgen zu provokanten Aktionen fünf Qualitätskriterien für Aktionen auf, und eine davon ist: Keine einzelne Aktion allein wird es bringen, höchstwahrscheinlich. Sie muss eingebettet sein in andere Aktionen, die aufeinander aufbauen. Man spielt also verschiedene Formate, und die provokante Aktion ist ein Baustein unter mehreren. Das ist auch ein Schutz gegen Fehler: Wenn eine Maßnahme mal nach hinten losgehen sollte, wäre sie halt nicht die einzige, sondern eine von mehreren; sie ließe sich auffangen. Eine richtig erfolgreiche Aktion besteht aus vielen Teilen, um viele Leute abzuholen und dazu zu bringen, auf viele Arten und Weisen etwas zu machen. Aber: Die Provokation, die provokante Aktion darf dabei nicht fehlen – sonst landet das Ganze einfach im Papierkorb.
Zu Ihren Auftritten, die den Anlass für unser Gespräch stiften, bringen sie ja ein Buch mit. Ist das ein Ratgeber für gutes, nämlich wirksames Protestieren?
Jein. Zuerst ist es eher ein analytisches Buch, das sich auseinandersetzt mit den Wirkungen, die provokante Aktionen vor dem Hintergrund einer Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse haben können und in der Vergangenheit hatten. Man könnte es aus diesem Blickwinkel als wissenschaftliche Betrachtung verstehen. Allerdings habe ich eine oft leider als unwissenschaftlich angesehene Perspektive: Abgesehen von den historischen Beispielen wie Beate Klarsfelds Ohrfeige war ich bei allen jüngeren Beispielen, die das Buch behandelt, dabei. Der Anlass, es überhaupt zu schreiben, waren vor allem die teils krass unqualifizierten Bewertungen der Letzten Generation seitens Bewegungsforscher:innen. Da habe ich gesagt: Ich mache mal eine Analyse politischer Aktivitäten in der Vergangenheit, beleuchte, was wie gut wirkt – aus dem Blickwinkel von jemand, der dabei war. Es ist also ein Buch, das der wissenschaftlichen Betrachtung mindestens Aspekte hinzufügt, wenn nicht sogar ihnen in einigen Punkten klar widerspricht.
Wer kommt zu Ihren Veranstaltungen? Erfahrene Protestier:innen – oder auch Menschen, die sich dazu erst noch durchringen müssen?
Darüber entscheidet sehr stark, wer es veranstaltet. Menschen kommen offenbar weniger aufgrund eigener Entscheidung, wegen der Themen; sondern sie kommen zu ihrer Bubble. Insofern ist etwa ein Auftritt im Hamburger Audimax ein bisschen Neuland, weil ich sehr selten in solche universitären Kreise eingeladen werde. Es laden mich ja überwiegend aktive Gruppen ein. Oder frustrierte aktivistische Gruppen: Die merken halt, das, was sie erreichen, vollkommen unbedeutend bleibt angesichts des Dramas, gegen das sie sich engagieren; nicht nur im Bereich Ökologie oder Klimaschutz. Nein, das betrifft auch antirassistische Initiativen, zum Beispiel: Der Effekt, den sie haben etwa mit Aktionen an Geflüchtetenlagern und auf dem Mittelmeer, der ist verschwindend gering. Und das kann Leute frustrieren. Sodass sie nach zwei, drei Jahren mich einladen, um mal zu gucken: Wie lässt sich die eigene Wirksamkeit erhöhen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch