Die Wahrheit: Eis am Stil

Kleine sprachkritische Stielkunde: Nicht nur „Mine“ und „Miene“ werden inzwischen in der geschriebenen Alltagskonversation dauernd verwechselt.

Heute will ich auch einmal einen Sittenverfall beklagen. Und zwar ebenfalls in diesem endzeitlichen Tonfall, der dem Chor der Rückwärtsgewandten, Querdenker und Migrationskritiker in seinen Jammergesängen so viel Wucht verleiht. Denn ich sehe die Apokalypse schnurstracks auf uns zurauschen, weil sich niemand mehr die Mühe macht, im Zweifel im Duden nachzuschlagen. Über die Schreibweise vieler Wörter besteht grob durchaus Einigkeit, konkret ist sich jedoch fast niemand hundertprozentig sicher, und zum Googeln sind sich alle zu fein.

Gerade bei homophonen, also gleichlautenden Wörtern, die unterschiedlich buchstabiert werden, kommt es dabei ständig zu semantischen Unfällen, die die Welt an den Rand der Unbewohnbarkeit manövrieren. Gerade zum Beispiel habe ich eine Notiz über ein Vorkommnis auf einem Weihnachtsmarkt gelesen, wo es jemanden nach einem „kandierten Apfel am Stil“ gelüstete. Das hat mich zum Lachen gereizt, stärker als gedacht, weil der Banause und Prolet in mir bürgerliches Stilbewusstsein insgeheim verachtet und bei dem billigen Jahrmarktfutter gleich neben Glühwein mit Schuss und Champignons mit Knoblauchsoße gut aufgehoben findet.

Zugleich habe ich die fauligen Miasmen aus dem Schwefelpfuhl des Weltenendes im Duft des Weihnachtsmarkts bereits erschnuppern können. Wer nämlich darauf achtet, wird dieses Fehlers in jüngster Zeit regelmäßig gewahr. „Eis am Stil“ ist bereits ein richtiger Klassiker der geschriebenen Alltagskonversation. Gewiss werden Stilstaubsauger, Stilrippchen und Stilwarzen nicht lange auf sich warten lassen. Kurz danach wird der Stiel mit „ie“ ausgestorben sein und das Tor zur Hölle sich einen weiteren, klaffenden Spalt öffnen.

Damit ist der Untergang der Welt, wie wir sie kennen, eigentlich schon besiegelt. Denn den nächsten Schub hin zur sperrangelweiten Öffnung erhält das Tor durch die um sich greifende Pest, im Schriftverkehr systematisch „Mine“ und „Miene“ zu verwechseln. Diese immer populärere Verwechslung sorgt regelmäßig für schwere, oftmals tödliche Verletzungen oder zumindest gebrochene Nasen, je nachdem, ob jemand auf eine Mine oder in eine Miene getreten hat.

In der bedrohlichen Endzeitstimmung des späten Jahres 2023 ist es aber bereits völlig schnuppe, ob Menschen eine unbekümmerte Mine machen oder gar gute Mine zum bösen Spiel. Andersherum liest man von Bleistiftmienen, Goldmienen oder Antipersonenmienen kaum, obwohl es genug Anlass für solche mimischen Entgleisungen gäbe.

Wahrscheinlich nervt das Dehnungs-e die Leute inzwischen generell, weil es etwas Unausgesprochenes enthält und an den langen, gedehnten Untergang des Abendlandes gemahnt. Dabei weiß man doch eigentlich: Je mehr Wutbürger, desto weniger Duden! Und: Zufriedene Minen danken es ihnen – durch Detonation.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.