Abzocke, Betrug, Kleinkriminelle: Treffen sich zwei Trottel am Bahnhof
Kann es Geschichten geben, die zu unglaubwürdig sind, um gelogen zu sein? Unser Autor ist sich da nicht mehr so sicher.
S chon der Laufschritt ist alarmierend, mit dem der Typ mir über den Parkplatz des Kleinstadtbahnhofs hinterhersprintet. Auch das Grinsen wirkt dubios und seine Geschichte klingt komplett abstrus: Er brauche Geld für ein Bahnticket – ach so, nein, äh, auf meinem Ticket mitfahren wolle er nicht – denn da warte gleich ein Taxidienst am anderen Ende der Stadt, um ihn direkt zu einem wirklich wichtigen Vorstellungsgespräch nach Harburg zu bringen. Und jetzt habe er zu wenig Geld mit und erreiche leider, leider seine Frau nicht.
Normalerweise versuche ich die Schnorrergeschichten zu überhören. Ist ja schlimm genug, dass die Leute sich diesen Scheiß ausdenken müssen – weil es ja auch mit ihnen was macht, wenn sie damit durchkommen. Persönlich fühle ich mich besser, wenn wer fragt, ob ich ein bisschen Kleingeld für sie oder ihn über hätte. Wie es mir mit dem Elend der anderen geht, ist natürlich nicht der Punkt, aber wir haben in Sachen Betteln alle unsere Strategien – ob wir nun nach Geld fragen oder auf die Frage antworten müssen.
Hier draußen im Speckgürtel kommt der Übergriff aber unerwartet und lässt mich unerwartet zweifeln. Was wäre, frag ich mich, wenn der Typ, Marke kleinkrimineller Vorstadtgangster, am Ende wirklich hier gestrandet ist? Wer würde dem schon glauben? Mit seiner fahrigen Checkerhaltung und dieser beknackten Geschichte. Und dann sitzt er hier am Arsch der Welt und kriegt den Job nicht wegen 17 Euro irgendwas?
Okay, der Zug ist schon am Einrollen, ich habe keine Zeit zum Denken und bekanntermaßen ein gutes Herz. In diesem Moment singt mir (ungelogen!) Funny van Dannen so Über-ich-mäßig ins Hirn: „Erst dachte ich: Pass auf, die will dich reinlegen, Alter! / Aber dann sagte ich mir: So dreist kann niemand sein / und obendrein so unverschämt mich für so doof zu halten.“ Ich gebe ihm 20 Euro und er wirkt selbst ein bisschen überrascht.
Ich bin doch nicht blöd, denke ich
Er diktiert mir eine Handynummer. Ich solle ihm Bankdaten über Whatsapp schicken und dann – „Ehrenwort“ – überweist er’s zurück. „Klar, dir geb ich noch meine IBAN“, denk ich, „ich bin doch nicht blöd.“
Die Abwägung ist simpel: 20 Euro für das höchst zweifelhafte Gefühl, jemandem geholfen zu haben, der qua Ganoven-Charisma eigentlich keine Chance auf mein Geld hätte.
Ich schicke ihm keine IBAN. Aber im Zug google ich die Handynummer und finde sie direkt auf einer „Wer ruft an?“-Plattform mit dem Hinweis, es wäre ein Soundundso dran, der sich für Geldgeschäfte irgendwo treffen wolle: „Vorsicht, Abzocke!“ Die Nummer taucht auch in Inseraten für (vier verschiedene) Gebrauchtwagen auf.
Lustig ist, dass er sich unter dem Soundso-Namen auch leicht finden lässt: auf Instagram und Facebook, wo er zwischen seinen so tätowierten wie durchtrainierten Brüdern in Boxerpose herumhampelt.
Einfach aus Scheiß schick ich eine PayPal-Zahlungsaufforderung über 20 Euro an die Handynummer und finde in der automatischen Bestätigungsmail dann auch seinen echten Namen. Der Zug ist noch keine fünf Minuten unterwegs, da habe ich eine Adresse und einen Onlineartikel der Lokalzeitung, in dem er vor ein paar Jahren als Absolvent der Realschule der Nachbarstadt geführt wird.
„Ach, Junge“, denk ich und stalke noch ein bisschen weiter zwischen überbelichteten Selfies und Fotos von Familienfeiern mit viel Bling-Bling herum. Ganz weit unten im Feed finde ich ihn mit Unschärfefilter und einem fett gesetzten Zitat der Marke „Nachdenkliche Sprüche mit Bild“. Da steht: „Ich bereue keine Fehler so sehr, wie die ganzen guten Taten, die ich für die falschen Menschen getan habe.“
Und jetzt tut er mir doch ein bisschen leid, denn ich weiß ja ganz genau, was er meint.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen