Ausstellung über Um- und Anbau: Am besten nichts Neues

Eine Ausstellung in Hannover zeigt: Statt Leerstand und Abriss wäre ein kreativer Umgang mit Bausubstanz denkbar. Die Wohnungsnot würde er lindern.

Eine umgebaute Kirchenwand

Nach ihrer Teilzerstörung wurde die Kirche von Vilanova de la Barca zum Gemeindezentrum umgebaut Foto: Adrià Goula/DAM

Eigentlich ist das Um-, An- und Weiterbauen eine uralte Kulturtechnik. Allerdings fordert sie fantasievolle, undogmatische, mitunter auch langwierige Herangehensweisen aller Beteiligten, wie die Ausstellung „Nichts Neues – Besser Bauen mit Bestand“ derzeit in Hannover vor Augen führt. Die Übernahme aus dem Deutschen Architekturmuseum Frankfurt zeigt 24 internationale Projekte aus allen Kontinenten, verschiedenen Größenordnungen und Nutzungen, von Wohnen, Arbeiten, über Grünräume bis zur Kultur. Anhand von sechs Themenbereichen werden Um- oder Anbau oder das Reaktivieren brachliegender Substanz analysiert.

Wie dringlich dieses Anliegen ist, verdeutlicht ein Blick auf die reale Wohnungsnot, ihre Ursachen und die gängigen Ansätze, wie sie zu lindern wäre. So würden nach dem Wunsch der Bundesregierung jährlich 400.000 Wohnungen fertiggestellt, um einem Mangel an kostengünstigem Wohnraum zu begegnen. Jenseits der unrealistischen Zahl stellt wohl niemand in Frage, dass diese Wohnungen neu gebaut werden sollen. Mit all den Konsequenzen wie Grundflächenverbrauch, aufwendiger technischer Erschließung und Maßnahmen sozialer Infrastruktur sowie den so kostenträchtigen wie umweltbelastenden Faktoren, die Planen und Bauen heutzutage nun mal bedeuten.

Anderseits weisen Statistiken seit Jahren erstaunliche Leerstände im deutschen Wohnungsmarkt aus. Um 2016 sollen es gut zwei Millionen Wohnungen und Eigenheime gewesen sein, wohl bereits bereinigt um sogenannte „Schrottimmobilien“. Zum Ende des Jahres 2021 waren es rund 607.000 Einheiten, so die Erhebung von Statista aus dem August 2023. Abgebildet wurde der „marktaktive Leerstand von Geschosswohnungen. Dazu zählen leer stehende Geschosswohnungen, die unmittelbar disponibel (vermietbar) sind, sowie leer stehende Wohnungen, die aufgrund von Mängeln derzeit nicht zur Vermietung anstehen, aber gegebenenfalls mittelfristig aktivierbar wären“, sprich in weniger als einem halben Jahr.

Erneuern statt Verfall und Abriss

Spitzenreiter in Sachen Wohnungsleerstand ist dabei der Bund. Zum Stichtag 31. März 2022 stand gemäß einer Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Frage der Linkspartei jede sechste der insgesamt rund 38.000 bundeseigenen Wohnungen leer. Der Grund: Sanierungsrückstände.

Darf man eine Dunkelziffer bei den Leerständen privater und gewerblicher Vermieter vermuten, da ihre Angaben auf Freiwilligkeit beruhen, so gibt es ein noch größeres Informationsdefizit bezüglich des Abrisses von Immobilien. Denn viele Bundesländer verlangen überhaupt keine Anzeige mehr. Ein Abriss ist gemäß amtlicher Terminologie „verfahrensfrei“ – Ausnahme sind Baudenkmale, Hochhäuser oder Gebäude, in denen sich geschützte Tierarten angesiedelt haben.

Allerdings lassen sich aus dem fachgerecht zu entsorgenden Bauschutt Rückschlüsse auf die Abrisstätigkeit ziehen, das jährliche Volumen soll etwa dem Materialbedarf von 422.000 Wohnungen entsprechen. In den Baumaterialien gebundene „graue Energie“ wird in der Regel vernichtet, zermahlen etwa zu minderwertigen Füllstoffen für den Straßenbau. Ein zweites Ziel der Bundesregierung, neben besagten 400.000 Wohnungen pro Jahr nämlich die CO2-Neutralität bis 2045, rückt so ebenfalls in weite Ferne.

Lange hat sich der Berufsstand der Ar­chi­tek­t:in­nen und Bau­in­ge­nieu­r:in­nen wenig um diese Zusammenhänge gekümmert, galt der Neubau doch als prestigeträchtiger und auch berechenbarer in der Umsetzung. Durch Programme wie „Shrinking Cities – Schrumpfende Städte“ ab 2004 oder die Städtebauförderung „Soziale Stadt“ wurde bis vor wenigen Jahren zudem selbst der großflächige Abriss, euphemistisch „Rückbau“, offiziell favorisiert, gar staatlich gefördert.

Ausstellung „Nicht Neues – Besser Bauen mit Bestand“: bis 9. November, aufhof, Seilwinderstraße Hannover. Online-Portal unter abriss-atlas.de

Erst vor zehn Jahren begann ein langsames Umdenken. Das spiegelt sich vorrangig – als Lippenbekenntnis – in den internationalen Auszeichnungen der Branche wider. So erhielt das französische Duo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, ausgesprochene Spe­zia­lis­t:in­nen für die Neuprogrammierung baulichen Bestands und von der Presse schon mal als „Abrissgegner“ tituliert, 2020 den Großen BDA-Preis des Bundes Deutscher Architekt:innen, gefolgt 2021 vom US-amerikanischen Pritzker-Preis, einer Art Nobel-Preis für Architektur.

Die Ausstellung in Hannover wirft auch einen Blick auf komplexe Prozesse wie das „Erneuern“ in Dorf und Stadt. Beispiel hierfür: das Gängeviertel in Hamburg, 2009 durch die „kulturelle Inbesitznahme“ vor Verfall und Abriss gerettet. Mittlerweile ist der Weiterbestand durch eine Genossenschaft gewährleistet, ausgestattet mit einem 75-jährigen Erbbauvertrag, bis 2027 soll sukzessive saniert werden. Das Viertel bleibt ein Stück selbstverwalteter Stadt – ohne Gentrifizierung oder sonstige ökonomische wie soziale Verdrängung, die häufig auf Sanierungs- und Aufwertungsmaßnahmen folgt.

Der Hannoveraner Ausstellungsort, eine leer stehende Kaufhaus-Filiale, ist als „aufhof“ von der Kommune bis Anfang 2024 als temporäres Kommunikationszentrum gefördert und thematisiert selber ein aktuelles, großes Problem deutscher Innenstädte: Was tun mit den Kaufhausmonstern nach dem Erodieren ihres großflächigen Einzelhandels?

Ergänzt wird die Schau durch acht studentische Projekte der Leibniz-Universität zu umbauwerten Objekten im Hannover, darunter auch eine Masterarbeit zu diesem Kaufhaus. Die Verfasserin will die robuste Baustruktur durch eingeschnittene Innenhöfe in ein luftiges, mischgenutztes Stadthaus transformiert sehen. Denn anders als der etablierte Berufsstand beackern Studierende, junge Gruppierungen wie Architects for Future oder auch Hochschulen schon seit Geraumen das ressourcenschonende Bauen im Bestand.

Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft und Betreuer der Hochschulprojekte, sieht allerdings noch Defizite im Curriculum. Die Studierenden kontern mit selbstinitiierter Kreativität. Sieben „Detektivinnen“ haben während des vergangenen Semesters einen Abriss(be)fundbericht zur Region Hannover erstellt. Der umfasst mehrere Hundert beseitigte oder gefährdete Bauten, da­runter so stadtbildprägende Immobilien wie das Kröpcke Center oder das Postscheckamt. Sie bildeten zunächst das Herzstück eines ansonsten recht schütteren, von Theatrum und den Projektpartnern gestalteten online Abriss-Atlas'. Dass dieser eine Woche nach Freischaltung über 800.000 Aufrufe generiert hat, und weit über 500 Einträge erstellt worden sind, zeigt, dass es gelingen kann, dem Thema eine Öffentlichkeit zu verschaffen, die seiner Bedeutung entspricht.

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