Nahost-Konflikt in Berlin: Sinnbild Sonnenallee

Dutzende skandieren „Free Palestine“, ein Schulhofkonflikt wird zum Politikum –  doch es gibt auch andere, leisere Stimmen. Eine Woche in Neukölln.

Ein Mann, der ein t Palästinenser-Tuch trägt, steht zwischen zwei Poliszisten

Macht ihn die Palästina-Solidarität zum Hamas-Unterstützer? Demonstrant auf der Sonnenallee Foto: Michael Künne/PRESSCOV/ddp

BERLIN-NEUKÖLLN taz | Es knallt auf der Sonnenallee, die Schü­le­r:in­nen erschrecken. Knapp 40 von ihnen und einige Eltern protestieren am Mittwoch vor einem Gymnasium in Neukölln. Viele tragen eine Kufija um den Hals, das schwarz-weiße Palästinensertuch. Der Knall kam nur von einem Lkw-Reifen, die Stimmung bleibt trotzdem geladen.

„Wir wollen hier stehen und unsere Meinung sagen gegen einen Lehrer, der handgreiflich wird“, sagt eine 15-Jährige – der Lehrer und zwei Schüler sind am Montag über eine Palästinaflagge aneinandergeraten. Sie werfen ihm Rassismus vor. Ein Schulhofkonflikt. Eigentlich. Die Fernsehkameras und die vielen Po­li­zis­t:in­nen vor dem roten Klinkerbau zeigen, dass es um mehr geht.

Seit den jüngsten Angriffen der Hamas auf Israel nehmen in Europa die Spannungen zu. Und die ­Unsicherheit für Jüdinnen und Juden. In London skandierten Protestierende direkt nach den Attacken, Israel sei ein „­Terrorstaat“; in Paris kam es am Donnerstag zu Massenprotesten. In Deutschland sind es weit weniger, doch auch in Duisburg, Chemnitz, Dortmund und anderen Städten gingen schon Menschen in Solidarität mit Palästina auf die Straße.

Und in Neukölln, diesem Seismografen für deutsche Befindlichkeiten mit seinen 330.000 Ein­woh­ne­r:in­nen und schlechtem Ruf, wie lief die Woche dort, wo neben Zurückgezogenen und Hipstern viele politisch Bewegte leben – und neben einer großen Zahl Palästinastämmiger auch relativ viele Menschen aus Israel?

Die Jugendlichen fühlen sich unfair behandelt

Am Gymnasium filmen die Jugendlichen zurück, in sozialen Medien erzählen sie ihre eigene Geschichte. Sie sehen sich unfair behandelt, ihre Demo wurde verboten wie viele weitere in dieser Woche. Die Polizei könne „nicht ausschließen, dass es möglicherweise Hamas-Sympathisanten gibt, die diese Kundgebung für ihre Zwecke ausnutzen“. Nach kurzer Zeit zerstreut sich die Gruppe, unter Protest.

Tatsächlich wurden vor der Schule Flugblätter linker Splittergruppen verteilt, die die Attacken der Hamas als „Befreiungskampf“ feiern. Ein wenig höher auf der Sonnenallee hatte das Feiern am vergangenen Samstag begonnen. Fotos zeigen einen Mann, der süßes Gebäck verteilt, die schwarz-rot-grün-weiße Fahne um die Schultern. „Zur Feier des Sieges des Widerstands“, kommentierte die Gruppe Samidoun das in den sozialen Medien. Drei Männer wurden angezeigt, 50 weitere skandierten wenig später „Free Palestine“. Als die Polizei die Ansammlung auflöste, flogen Flaschen. Neukölln gilt wieder als Problembezirk nicht nur Berlins, sondern des ganzen Landes.

Dienstagnachmittag. In Ibrahim Saharys Konditorei gibt es süße Kunafa, Baklava mit Pistazien, Milchpudding. Zwei ältere Herren trinken ihren Kaffee, die Frau neben ihnen löst ein Kreuzworträtsel. Ibrahim Sahary, kariertes Hemd, randlose Brille, ist 43 Jahre alt. 2004 ist er aus Syrien nach Deutschland gekommen, in Hannover hat er Elektrotechnik studiert. Als sein Schwager, ein Konditor, 2016 aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland floh, eröffneten sie zusammen den Laden. Genau der war auf Fotos im Hintergrund der Samidoun-Feier zu sehen.

Sahary ist sauer. Die Sonnenallee sei ohnehin verschrien, sagt er. „Ich habe ganz bewusst keine Flaggen im Laden hängen“, sagt er. Er könne es sich schlicht nicht leisten, Kunden zu verlieren, ob Deutsche, Israelis oder Palästinenser:innen. „Es geht mir ums Geschäft, um Geld.“ Störenfriede schmeiße er raus, Kriege wolle er keine weiteren. „Die Politiker sollten Kompromisse eingehen.“ Damit sich die Menschen wirtschaftlich entwickeln könnten. In Syrien. In Israel und Palästina.

Diaspora als Raum der Begegnung

Dienstag, früher Abend. Zum Nord­ende der Sonnenallee, dem Hermannplatz, sind es nur ein paar Schritte. Zwischen den Ständen des Wochenmarkts steht eine Bronzestatue. Immer wieder malen Menschen während der Woche die Flagge Palästinas auf den Betonsockel darunter. Immer wieder übermalen Polizeibeamte sie. Am Rand des Platzes sitzen acht Jugendliche, zerknüllte Fahnen in den Händen, von Polizeibeamten umringt. „Platzverweis“, sagt eine Polizistin.

Mati Shemoelof, 50 Jahre alt, Jackett, rote Baseballkappe, hat schlecht geschlafen. „Wir stehen unter Schock, wir haben noch nie etwas Derartiges erlebt“, sagt der jüdische Schriftsteller über die Hamas-Attacken. Seit zehn Jahren lebt er mit seiner Familie in Neukölln, nur ein paar Hundert Meter vom Hermannplatz entfernt. Auch viele andere Israelis, gerade linke, zogen damals nach Berlin.

„Bagdad Haifa Berlin“ heißt der Gedichtband, den Shemoelof ins Café mitgebracht hat. Anhand seiner Lyrik will er erklären, wie er sich gerade fühlt. Shemoelofs Großeltern waren in den 1920er Jahren aus dem Irak und Syrien ins damalige Palästina eingewandert. In Berlin freundete der arabische Jude sich mit Menschen aus den arabischen Ländern an. Um die Diaspora als Raum der Begegnung dreht sich auch seine Kunst. „Ich hoffe, dass meine Tochter die Idee weiterträgt, dass wir einander anerkennen.“

Shemoelof wünscht sich eine schnelle politische Lösung im Nahen Osten. „Ich sage nicht, dass es zwei Seiten gibt, ich bin gegen den Terror der Hamas. Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch in Gaza Menschen leben.“ Er könne verstehen, wenn Palästinastämmige auf die Straße gehen, sei es aus Trauer oder Wut.

Aycan Demirel von der ­Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus

„Gruppen wie Samidoun missbrauchen die Emotionen von Jugendlichen“

Wo bleibt die Pro-Israel-Demo?

Und die Baklava-Aktion, quasi vor seiner Haustür? „Wenn in Neukölln Leute ihr Mitgefühl verlieren, ist das grauenhaft. Aber ich weiß, dass meine besten Freunde in der palästinensischen Community gerade nicht feiern.“ Und die Jugendlichen? „Ich denke, dass viele palästinensische Kids verwirrt sind. Das deutsche Bildungssystem gibt keine Antwort auf ihre Geschichten und ihren Schmerz.“

Am Mittwochabend fliegen am Hermannplatz Böller, es ist der vorläufige Höhepunkt der Proteste. Die Polizei spricht von „ordentlich Potenzial auf der Straße“. Ab dem Nachmittag bewegen sich verschiedene Gruppen über und um den Platz, teils sind es die Gesichter der vergangenen Tage. Auch Samidoun-Anhänger. Einige Hundert Neu­köll­ne­r:in­nen laufen vorbei, schauen, rufen. „Free Palestine“, skandieren einige. Andere zeigen sich mit dem Schild „Americans for Palestinian Liberation“. Immer wieder rhythmisch zu hören: „From the river to the sea – Palestine will be free.“

Eine Person, Mitte 30, raspelkurze Haare, steht mit Fahrrad und Kind am Rand und ruft mit. Das Kleinkind hat eine Kufija um, schaut schweigend den gepanzerten Po­li­zis­t:in­nen zu. ­Ursprünglich stamme sie aus Portugal, sagt die Elternperson, sie definiert sich als nichtbinär. Seit zehn Jahren lebe sie hier und wolle Solidarität mit ihren ­palästinensischen Freun­d:in­nen zeigen. Auf den Platz selbst würde sie nicht gehen, die Demo sei ja verboten.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Feiern angesichts von ermordeten und entführten Zivilist:innen?

— „Die Menschen feiern ja nicht die Morde, sondern dass der Zaun eingerissen wurde.“

„From the river to the sea“ – wohin sollen dann die Israelis?

— „Es gab auch vor der Gründung Israels Juden auf dem Gebiet. Und das sollte auch in Zukunft so sein.“

Eine Beobachterin am Rand des Polizeikessels sagt: „Wo bleibt eigentlich die große Israeldemo in Berlin? Bei der Ukraine haben sich Zehntausende solidarisiert.“

Die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel werde von großen Teilen der Gesellschaft nicht getragen, sagt ­Aycan Demirel am Telefon. Und das gelte ganz und gar nicht nur für arabisch- oder türkeistämmige Menschen. Vor 20 Jahren hat Demirel die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus gegründet, heute berät er mit IBIM Schulen, auch in Neukölln. „From the river to the sea“ – für Demirel stellt der Ruf Israels Existenzrecht infrage.

Er warnt vor politischen Gruppen wie Samidoun. „Sie missbrauchen die Emotionen von Jugendlichen.“ Gerade bekomme er besonders viele Anfragen, auch von Grundschulen. „Solidarität mit Palästina kommt bei den Kindern und Jugendlichen oft zum Ausdruck“, sagt er. Palästinensische Geflüchtete seien in Berlin oft jahrzehntelang ohne Staatsbürgerschaft und Teilhabe geblieben. Das Narrativ, Opfer des Nahostkonflikts zu sein, sei über mehrere Generationen weitergegeben worden.

„Positive Bezüge zu Palästina sind in Ordnung“, sagt Demirel. Sie dürften nur nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken münden, das alle Probleme des Nahen Ostens auf die Gründung Israels zurückführe. „Es braucht einen sicheren Raum für die Jugendlichen, wo sie Familiennarrative artikulieren können, wo man diskutieren und Fragen stellen kann.“ Den Leh­re­r:in­nen fehlten oft die Kompetenzen dafür. Demirel macht sich Sorgen. „Eine solche Gewalt gegen Juden gab es nach 1945 nicht mehr. Es sind umso größere Auswirkungen hier zu erwarten.“ Nicht nur in Neukölln.

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