Vor 50 Jahren begann Jom-Kippur-Krieg: Am Rande einer Niederlage
Potenzial zur globalen Eskalation: Am 6.10. 1973 überfielen diverse arabische Armeen im Jom-Kippur-Krieg Israel. Linke sahen darin Anti-Imperialismus.
Vor 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, begann mit dem Angriff der von der Sowjetunion aufgerüsteten syrischen und ägyptischen Armeen auf Israel der Jom-Kippur-Krieg, der den Nahen Osten nachhaltig verändern sollte. Zur Vorgeschichte dieses Waffengangs, in dem Israel anfänglich an den Rand einer Niederlage gebracht wurde, gehören die ersten vier arabisch-israelischen Kriege, von denen hierzulande am ehesten noch der Sechstagekrieg von 1967 im Bewusstsein ist.
Nach der vernichtenden Niederlage, welche die arabischen Staaten bei ihrem ersten Angriffskrieg gegen den neu gegründeten israelischen Staat 1948 erlitten haben, änderten sie ihre Position jahrzehntelang nicht und sprachen immer wieder von der Notwendigkeit einer „zweiten Runde“ zur Vernichtung des „zionistischen Gebildes“.
1956 weitete sich der Konflikt zwischen Israel und Ägypten zur Suez-Krise aus, nachdem die Monarchie von König Faruk gestürzt worden war und 1954 Gamal Abdel Nasser die Macht übernommen hatte. Zur Eskalation kam es, nachdem Ägypten den Golf von Akaba blockiert und den Suezkanal für die israelische Schifffahrt geschlossen hatte.
Vorspiel Suez-Krieg
Im Suez-Krieg trugen die israelischen und die mit ihnen verbündeten französischen und britischen Einheiten zwar den Sieg davon, wurden aber auf Druck der USA und der Sowjetunion dazu gezwungen, 1957 den Rückzug anzutreten. Nasser gelang es, diesen Rückzug als ägyptischen Sieg zu verkaufen, was seiner panarabischen Ideologie enormen Auftrieb verschaffte.
Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und unter anderem Herausgeber von „Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart: Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung“ (Nomos 2023).
Nasser und andere arabische Führer begannen schon bald nach dem Sinai-Krieg ganz offen von der Notwendigkeit einer „dritten Runde“ zu sprechen, in der Israel endgültig vernichtet werden müsse. Nassers diesbezügliche Formulierungen lesen sich wie eine Vorwegnahme der heutigen Hasstiraden von Ali Chamenei und anderen Vertretern des iranischen Mullahregimes.
1961 proklamierte der ägyptische Präsident: „Hinsichtlich Israel denken wir, dass das Böse, das ins Herz der arabischen Welt eingeschleppt wurde, ausgemerzt werden muss.“ Im Juni 1967 sah alles danach aus, als wenn die arabischen Staaten einen erneuten Anlauf zur Vernichtung des jüdischen Staates nehmen wollten. Im Vorlauf des Sechstagekriegs rückten ägyptische Truppen im Sinai ein.
Baath-Partei befehligt syrische Armee
An der Nordgrenze stand Israel die seit 1966 unter dem Kommando der Baath-Partei befindliche syrische Armee gegenüber, die jordanische Armee begab sich unter den Befehl eines ägyptischen Generals, und irakische Einheiten rückten nach Jordanien ein.
Nach langem Zögern entschloss sich Israel zu einem Präventivschlag: Der Krieg führte abermals zu einer desaströsen Niederlage für die arabischen Armeen. Während der Krieg von 1948 die arabischen Monarchien diskreditiert hatte, verliert nun Nassers Panarabismus an Legitimität, was die Bedingungen für den Aufstieg des islamischen Dschihadismus entscheidend begünstigt.
Nach dem Sechstagekrieg legten die arabischen Staaten auf der Konferenz von Khartum ihre drei Neins für die zukünftige Politik gegenüber Israel fest: kein Frieden, keine Anerkennung, keine Verhandlungen mit dem jüdischen Staat.
Ein Abnutzungskrieg
Was im Nahen Osten gemeinhin als vierter israelisch-arabischer Krieg gezählt wird, ist im europäischen historischen Bewusstsein kaum präsent. Der Abnutzungskrieg zwischen Ägypten und Israel von 1968 bis 1970, den Nasser begonnen hatte, um den Sinai von Israel zurückzuerobern. Die israelische Seite hatte in dieser Auseinandersetzung fast doppelt so viele Tote wie im Sechstagekrieg zu beklagen. Am territorialen Status quo änderte sich durch den Abnutzungskrieg nichts Entscheidendes.
In den Jahren vor dem Jom-Kippur-Krieg hatte es Israel nicht nur mit den arabischen Staaten, sondern auch mit der PLO und anderen palästinensischen Organisationen zu tun, die Hunderte Angriffe gegen Israel ausführten und zu dieser Zeit unmissverständlich die Zerstörung Israels forderten. Nach der Schwächung der arabischen Armeen im Sechstagekrieg galt der palästinensische Terrorismus Anfang der 1970er Jahre in Israel als dominierendes Problem. Im Vorfeld des Jom-Kippur-Kriegs vollzog sich ein ähnlicher militärischer Aufmarsch an den Grenzen Israels wie vor dem Sechstagekrieg.
Schlecht vorbereitet
Das israelische Establishment war allerdings überzeugt, die arabischen Staaten seien weder willens noch fähig zu einem erneuten Angriff – und falls sie es doch wagen sollten, würde Israel sie innerhalb kürzester Zeit zurückschlagen. Konkrete Warnungen von Teilen des Militärs und der Geheimdienste wurden nicht ernst genommen.
Dementsprechend wurde das Land vom konzertierten Angriff der von Moskau massiv aufgerüsteten syrischen und ägyptischen Armeen im Oktober 1973 an einem der höchsten jüdischen Feiertage weitgehend überrascht. Anders als im Sechstagekrieg hatte Israel es verpasst, auf die massive Militärkonzentration an den Grenzen des jüdischen Staates mit einem Präventivschlag zu reagieren oder sich zumindest angemessen auf einen bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Bis heute ist in Israel umstritten, ob der Krieg vermeidbar und es mit Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat nicht schon vor 1973 möglich gewesen wäre, ein Friedensabkommen mit Ägypten zu schließen.
Auch die Frage, ob Sadat und der syrische Präsident Hafis al-Assad tatsächlich die mögliche Zerstörung Israels für ein realisierbares Ziel hielten oder lediglich auf die Rückeroberung des im Sechstagekriegs verlorenen Golan und des Sinai sowie eine nachhaltige Schwächung Israels aus waren, wird bis heute kontrovers diskutiert.
Unabhängig davon war das öffentliche Bewusstsein in Israel während des Jom-Kippur-Krieges von einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß von Verzweiflung und Angst vor einer erneuten Vernichtung geprägt. Im Gegensatz zum Sechstagekrieg nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der politischen und militärischen Führung, die sich angesichts des unerwartet schnellen Vorrückens der angreifenden Armeen mit einer drohenden Niederlage konfrontiert sah.
US-Waffenlieferungen leiten die Wende ein
Diese konnte letztlich nur durch eine massive, aber erst nach langem Zögern errichtete Luftbrücke der USA zwecks Lieferung moderner Waffen abgewendet werden. Am Beginn des Krieges sah sich Israel dermaßen in Bedrängnis, dass es mit dem Einsatz seiner Nuklearwaffen drohte – was den Ausschlag für die umfangreichen Waffenlieferungen der US-Regierung gegeben haben dürfte. Israel hatte im Jom-Kippur-Krieg über 2.600 Tote zu beklagen – fast viermal so viele wie im Sechstagekrieg.
Die Verluste der Gegenseite, die im Verlauf der Kampfhandlungen Unterstützung aus Jordanien, Marokko, Libyen, Sudan und insbesondere dem Irak erhalten hatte, werden auf 15.000 bis 35.000 geschätzt. Territorial brachte der Jom-Kippur-Krieg, der in Ägypten in der Regel Oktober- oder Ramadan-Krieg genannt wird, so gut wie keine Veränderungen.
Die arabische Seite wurde nach anfänglichen Erfolgen abermals deutlich geschlagen. Der ägyptischen Propaganda gelang es aber, den Kriegsausgang – anders als 1948 und 1967 – als großartigen Sieg zu verkaufen. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die dann folgenden Friedensgespräche, die Sadat meinte, nur aus einer Position relativer Stärke wagen zu können.
Erhöhte Alarmbereitschaft
Den Weltmächten hatte der Krieg vor Augen geführt, dass der Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn das Potenzial zu einer globalen Eskalation besaß. Die Sowjetunion hatte während des Krieges sieben Luftlande-Divisionen in Einsatzbereitschaft versetzt, woraufhin die USA für ihre Nuklearwaffeneinheiten die Alarmbereitschaft erklärten. Als Reaktion darauf gibt es seither ein Interesse der Großmächte, eine Annäherung zwischen Israel und Ägypten zu unterstützen.
Der Friedensschluss mit Ägypten 1979 war die wichtigste außenpolitische Folge des fünften arabisch-israelischen Waffengangs: Erstmals erkannte ein arabischer Staat den 1948 gegründeten israelischen Staat an, und Israel räumte – schon damals gegen massiven Widerstand der nationalreligiösen Siedlerbewegung – den 1967 eroberten Sinai. Innenpolitisch führte der Jom-Kippur-Krieg zum Rücktritt der israelischen Premierministerin Golda Meir.
Dies ebnete den Weg für den erstmaligen Wahlsieg des rechtskonservativen Likud unter Menachem Begin bei den israelischen Wahlen 1977, nachdem die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien für die katastrophalen Fehleinschätzungen zu Beginn des Jom-Kippur-Kriegs verantwortlich gemacht wurden. Insofern markiert der Krieg von 1973 den Anfang vom Ende der Vorherrschaft der zionistischen Linken in Israel, welche das Land in den ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz geprägt hatte.
Umorientierung in der Bündnispolitik
In der Bündnispolitik, insbesondere in Afrika und Lateinamerika, führte der Krieg zu einer Umorientierung Israels, welches in den 1950er und 1960er Jahren noch enge Beziehungen zu einer Reihe postkolonialer Staaten unterhalten hatte. Im Jom-Kippur-Krieg bekam Israel einen Eindruck davon, wie es mit dem emanzipatorischen Potenzial der weltweiten linken „Befreiungsbewegungen“ bestellt war.
Zahlreiche dieser Bewegungen schickten ebenso wie die autoritär-sozialistischen Regierungen im Trikont Solidaritätsadressen an die arabischen Angreifer und wünschten ihnen alles Gute beim antiimperialistischen Feldzug gegen den zionistischen Feind. Und das in einer Situation, in der Israel sich an den Rand einer Niederlage gedrängt sah, von der man annehmen musste, dass sie die Vernichtung des jüdischen Staates und die Ermordung der Mehrzahl seiner Bewohner bedeutet hätte. Dass der israelische Staat diese „Befreiungsbewegungen“ in den Jahrzehnten nach 1973 wie Todfeinde behandelt hat, ist nicht verwunderlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Spaniens Staatschef im Nahkampf
Ein König mit Cojones
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala