piwik no script img

Szeneviertel in KyjiwDas Kreuzberg von Kyjiw

Kyjiws Stadtteil Podil ist lebendig und divers. Doch der russische Angriffskrieg ist nicht die einzige Gefahr für das urbane Soziotop.

In Podil ist alles kleiner und übersichtlicher als im restlichen Kyjiw Foto: Jae C. Hong/AP

Das Lokal Avtostantsiya im Kyjwer Stadtteil Podil ist wie eine lauschige Insel. Im klimatisierten Innenraum hängt eine Karte mit einem Busnetzplan, denn das Lokal war einmal das Zentrum des örtlichen Busnetzes. Ein Paar der grünen Plastikbänke des Wartesaals stehen noch an der Wand. Statt Fahrkarten gibt es heute Kimchi und Pizza, auch vegan, und für Abkühlung sorgt hausgemachte Limonade auf Kamillenteebasis.

Vor dem Beginn von Russlands großer Invasion wurde Kyjiw wegen seines Nachtlebens mit Berlin in den 1990er Jahren verglichen. Während der Pandemie lockten die vergleichsweise lockeren Regeln feierfreudiges Publikum aus dem Ausland zu mehr oder weniger legalen ­Raves in frühere Fabrikgebäude. Wenn Kyjiw das neue Berlin ist, dann ist der Stadtteil Podil sozusagen Kreuzberg.

Das Viertel liegt direkt am westlichen Ufer des Dnipro in der Nähe des Hafens. Dessen großflächige Anlagen, eine alte Brotfabrik und die Hügel im Westen rahmen den Stadtteil ein. Der Rest der Innenstadt Kyjiws liegt auf den Hügeln. Dorthin gelangt man entweder mit der Zahnradbahn oder mit einer der drei U-Bahnstationen in wenigen Minuten. Wer Zeit hat oder zu Besuch ist, wählt gern den verkehrsberuhigten Andreassteig. Dort bieten Händler Kunst und Trödel vor historischer Kulisse an. Ein Postkartenmotiv.

Tania Kozak will in der Avtostantsiya am Nachmittag ein bisschen von ihrem Lieblingsviertel erzählen. Die ukrainische Journalistin lebt seit rund 20 Jahren dort. „Eigentlich war es Zufall. Ich bin wegen meinem Freund hierhergezogen“, sagt sie. Aber inzwischen wolle sie nie mehr weg.

Einzigartige Mischung

„Die Mischung hier ist in Kyjiw einzigartig.“ Es gebe viele kleine Läden, immer wieder entstehe etwas Neues: „Viele junge, kreative Menschen leben hier.“ Dazu trägt sicherlich auch bei, dass sich mitten in Podil der Hauptsitz der Nationalen Universität Kyiw-Mohyla-Akademie befindet. Sie ist zwar nicht die größte, aber die älteste Universität des Landes.

Podil ist eines der ältesten Viertel der Stadt und auch heute noch von Bauten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt, die entlang der schmalen Straßen im Schachbrettmuster in vier oder fünf Stockwerken gebaut sind.

Die Sowjetzeit hat bis auf eine Markthalle mit geschwungenem Dach kaum architektonische Spuren hinterlassen. Alles ist eine Nummer kleiner und übersichtlicher als im Kyjiw der breiten Boulevards und Hochhäuser auf den Hügeln und am gegenüberliegenden Dnipro-Ufer.

Widerstand der Anwohner

Tania Kozak hofft, dass möglichst viel von Podils Charme erhalten bleibt. Immer wieder komme es nämlich vor, dass historisch wertvolle Gebäude vernachlässigt werden, bis sie nicht mehr zu retten sind oder es einen Brand gibt.

Hassobjekt vieler Anwohner ist seit einigen Jahren das „Monster von Podil“, ein zwölfstöckiges Wohn- und Bürogebäude an der zentralen Kreuzung, dessen Fassade eine wilde Mischung aus Architekturstilen abbildet. Es gibt Türmchen, Erker, runde, eckige und ovale Fenster sowie Fassadenteile in Braun und Dottergelb. Das Monster blockiert sogar eine Fußgängerunterführung.

Dass es Druck aus der Immobilienwirtschaft gebe, sei nicht überraschend. Das Viertel liege praktisch noch in der Innenstadt. Aber es gibt auch Widerstand. Lokale Aktivisten haben sich zusammengefunden. Es gibt Facebookgruppen und Telegramchannels. Die einen engagieren sich für den Erhalt historischer Bausubstanz, andere gegen Baumfällungen.

Divers und lebendig

Podil ist auch der diverseste Stadtteil Kyjiws, sagt Kozak. Menschen in dem Viertel waren in der Vergangenheit Ziel von Attacken: Im Herbst 2021 hatten 20 Rechtsradikale versucht, in eine Bar einzudringen, weil diese in ihren Augen ein Treffpunkt von Drogensüchtigen und Angehörigen der LGBTQ-Community ist.

„Ich habe mein ganzes Leben in Podil verbracht“, erzählt Sergey, abgesehen von Urlaubsreisen und drei Monaten direkt nach Beginn von Russlands Invasion. Da ist Sergey, der nicht will, dass sein voller Name veröffentlicht wird, mit seiner Frau und seinen Eltern in den Westen der Ukraine geflohen. „Aber nachdem die Russen aus der Umgebung der Stadt vertrieben waren, schien es uns sicher genug, zurückzugehen.“

Sergey mag, dass Podil lebendig ist. Und trotzdem habe es noch die Ecken, die sich seit seiner Kindheit nicht verändert haben. Durch die oft unebenen Straßen rumpeln jahrzehntealte Straßenbahnen.

Invasion macht erfinderisch

Der 33-Jährige arbeitet im Management einer IT-Firma, die einem internationalen Konzern gehört. Damit verdient er für ukrainische Verhältnisse überdurchschnittlich, hat ein modernes Auto, eine Eigentumswohnung und kann regelmäßig ausgehen. Über Gentrifizierung müsste er sich erst mal keine Sorgen machen. Aber er wisse, dass es für andere schwieriger ist.

In einer Seitenstraße führt Sergey in eine Kellerbar. Der Mann an der Theke begrüßt ihn mit Handschlag. Der Laden bietet eine Auswahl an lokalem Craftbeer. Sergey entscheidet sich für das Weizen, es kostet mehr als das Doppelte eines Bieres aus den ukrainischen Großbrauereien. „Die lassen sich immer etwas Neues einfallen. Sogar jetzt“, schwärmt Sergey von der Bar. In den ersten Wochen nach der Invasion sei das Leergut für Molotowcocktails benutzt worden.

Nach dem zweiten Bier ist Schluss. Um 22 Uhr schließen in Kyjiw die Restaurants. Die Ausgangssperre beginnt zwar seit mehren Monaten erst um Mitternacht, doch auch die Mitarbeiter der Gastronomie müssen irgendwie nach Hause kommen. Da kann es schon mal schwierig werden, ein Taxi zu bekommen. Und je später es wird, desto höher schießen die Preise in den Taxi-Apps.

In Zukunft könnte der Autoverkehr Probleme machen. Derzeit brausen die meisten Autos auf der mehrspurigen Uferstraße am Viertel vorbei. Doch vor der russischen Invasion waren die Bauarbeiten an einer neuen Dniprobrücke ganz in der Nähe wiederaufgenommen worden. Deren Zubringer würde direkt nach Podil führen. So ein bisschen hat auch Kyjiw – wie Berlin – seine Autobahn-Diskussion.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare