Fentanyl-Konsum in Europa: Gefährlicher als Heroin
Der Mohnanbau in Afghanistan wird beschränkt, darum steht ein Heroinmangel in Europa an. Das könnte für mehr Konsum von Fentanyl sorgen.
Der erste Besucher, der an einem Freitagmorgen im August die Kreuzberger Drogenkonsumstelle Fixpunkt betritt, fragt direkt nach einem Tee mit viel Zucker. Zwei, drei Esslöffel am besten. Wenn er jetzt noch drücken – also Heroin konsumieren – dürfe, ginge es ihm richtig gut, sagt er.
Viele hier fragen nach einer Menge Zucker im Tee oder Kaffee, sagt Martin Bergmaier, pflegerischer Leiter des Fixpunkts. Das sei gut für den Energiehaushalt. Die Besucher_innen können sicher und mit sauberem Besteck Drogen konsumieren. Außerdem bekommen sie zum Beispiel sozialarbeiterische, medizinische oder rechtliche Unterstützung. Bergmaier arbeitet seit 2019 dort und beobachtet seitdem, wie sich die Drogenkultur verändert.
Hauptsächlich werden im Fixpunkt Crack-Kokain und Heroin konsumiert. In den letzten Jahren sei vor allem der Crackkonsum gestiegen, erklärt Bergmaier. Crack mache die Konsumierenden oft getriebener, manchmal aggressiver: „Wir sind häufiger mit Gewaltvorfällen in der Einrichtung konfrontiert. Gegen uns, aber auch unter Besucher_innen.“
Hinter der Theke am Eingang des Fixpunktes hängt ein großes Plakat der Deutschen Aidshilfe, das darüber informiert, dass man sein Heroin auf das gefährliche Opioid Fentanyl testen lassen könne. Bevor sie konsumieren, werden die Besucher_innen dann darüber aufgeklärt, was die Risiken sind und dass die Dosis gegebenenfalls verringert werden sollte. „Eine Person, die Fentanyl im Heroin hatte, sagte, dass ihr dieser Rausch überhaupt nicht gefalle“, erklärt Bergmaier. Da es bald zu einem Heroinmangel in Europa kommen soll, wollen sich Einrichtungen wie der Fixpunkt vorbereiten.
50- bis 100-mal potenter als Heroin
Heroin, Fentanyl, Opioide: Das sind alles harte Drogen, die mit viel Stigma verbunden sind. „Opioid“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene starke Schmerzmittel wie Codein, Tilidin, Heroin oder Fentanyl. Sie alle sind morphinähnlich und wirken beruhigend und schmerzlindernd. Heroin wird aus Schlafmohn, der dann weiterverarbeitet wird, gewonnen und ist damit nur halbsynthetisch. Fentanyl dagegen ist vollsynthetisch, genau wie Methadon; das Heroin-Substituierungsmittel, das von Ärzten ausgegeben wird, damit Süchtige von Heroin wegkommen.
Fentanyl ist etwa 50- bis 100-mal so potent in der Schmerzlinderung wie Heroin. Zudem kommen Überdosen bei Fentanyl häufiger vor. Eine Sprecherin des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung berichtet, dass bei 73 der 1.990 Rauschgifttoten in Deutschland im Jahr 2022 Fentanyl nachgewiesen werden konnte. Die Vergiftung durch synthetische Opioide wie Fentanyl ist jedoch schwer erkennbar, weshalb von einer großen Dunkelziffer auszugehen sei.
Im Schnelltestverfahren wurde in mehreren deutschen Städten bereits vereinzelt Fentanyl im Heroin gefunden, sagt Maria Kuban von der Deutschen Aidshilfe. Hierbei gebe es regionale Schwerpunkte, die mit Handelswegen über den Seeweg in Verbindung stehen könnten. Solche Beimengungen führen zu einem Gewöhnungseffekt: Das Heroin reiche nicht mehr aus, da Konsument_innen eine stärkere Wirkung erwarten. So habe Fentanyl Heroin in Nordamerika bereits vom Markt verdrängt.
Nordamerika hat ein ernsthaftes Problem mit Fentanyl, was auf die dortige langanhaltende Opioidkrise zurückzuführen ist. Ihre erste größere Opferwelle forderte sie bereits in den 90er Jahren. Doch schuld an dem Ausmaß der Krise sind nicht etwa Straßendrogen, sondern verschreibungspflichtige Medikamente, die Opioide enthalten. Ein Beispiel dafür ist OxyContin, ein Opioid des Unternehmens Purdue Pharma, das wegen seiner verbrecherischen Strukturen jüngst viel mediale Aufmerksamkeit bekommen hat. Das Dealen beginnt in den Staaten schon in der Arztpraxis. Opioide werden dort leichtsinniger als etwa in Deutschland herausgegeben. Die Patient_innen werden süchtig, erhalten irgendwann kein Rezept mehr und substituieren die Medikamente dann durch Straßen-Opioide.
Manche nehmen Fentanyl, manche Heroin, manche Heroin, das mit Fentanyl gestreckt ist, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind. Dass der Konsum von Fentanyl schneller zum Tod führen kann, zeigt sich in den Zahlen ganz deutlich: Von 107.000 Opioid-Toten in den USA im Jahr 2022 starben etwa 70.000 Menschen an den Folgen von Fentanyl.
Hierzulande starben im Jahr 2022 mit 1.194 Menschen vergleichsweise wenige Menschen an Opioiden. Wir sind also von Zuständen wie in den Staaten weit entfernt. Doch unser Drogenmarkt könnte sich bald stark verändern.
Im August 2021 übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht. Im April 2022 verhängten sie ein Verbot für den Mohnanbau – nachdem im selben Jahr in Afghanistan so viel Mohn angebaut wurde wie nie zuvor. 2023 ist die Anzahl der Felder stark zurückgegangen, wie die Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) berichtet.
Vorräte in Afghanistan
Da die Konsument_innen in Europa fast ausschließlich mit Heroin aus Afghanistan versorgt werden, ist der europäische Heroinmarkt eng mit der Entwicklung des afghanischen Opiumanbaus verbunden. Bisher gebe es laut EMCDDA noch keinen Heroinmangel in Europa. Man müsse allerdings beachten, dass es nach der Mohnernte etwa 12 bis 18 Monaten dauert, bis das fertige Produkt im europäischen Drogenmarkt umläuft. Somit können die ersten Veränderungen erst nächstes Jahr beobachtet werden. Gebe es jedoch Vorräte in Afghanistan oder entlang der Schmuggelrouten, so können diese kurzfristige Engpässe ausgleichen.
Den Mohnbauern in Afghanistan ist nicht klar, ob das Verbot vollkommen umgesetzt werden soll und wie lange es anhalten wird. Bereits im Jahr 2000 verhängten die Taliban ein Mohnanbauverbot, woraufhin sich das Konsumverhalten in Europa veränderte. Fentanyl tauchte danach zum ersten Mal auf dem Kontinent auf und seine Verbreitung nahm besonders in den baltischen Ländern zu. Seit 2002 kämpft beispielsweise Estland mit Fentanyl und seinen Derivaten.
Das Verbot der Taliban dauerte damals nur kurz an. Über die Dauer des jetzigen Verbots kann nur spekuliert werden, da die Taliban wirtschaftlich stark vom Mohnanbau profitieren.
Die Herstellung von Fentanyl ist an einige Vorteile geknüpft. In Europa besteht bereits eine umfangreiche Infrastruktur, die für die Herstellung synthetischer Drogen wie Fentanyl genutzt werden könnte. Fentanyl und andere synthetische Opioide sind auch für Drogenhändler bequem. Die hohe Potenz synthetischer Opioide ermöglicht es ihnen, kleine Mengen zu schmuggeln, die leichter zu verbergen sind und trotzdem den Markt abdecken.
Das alles zeigt: Die Sorge, dass Fentanyl zukünftig auch in Europa eine größere Rolle spielen wird, ist berechtigt. Die EMCDDA glaubt zwar nicht, dass uns eine Opioidkrise wie in den USA erwartet, dennoch müsse man die Geschwindigkeit, mit der sich die Fentanyl-Problematik entwickeln kann, ernst nehmen.
Auch der Fixpunkt in Kreuzberg bereitet sich darauf vor, dass Fentanyl in Zukunft eine größere Rolle spielen wird. Abgesehen von den dort durchgeführten Tests der Deutschen Aidshilfe, gibt es beispielsweise Naloxon vor Ort. Das ist ein Nasenspray, das die Wirkung von Opioiden wie Heroin oder Fentanyl bei Überdosen aufheben kann. In Deutschland setzt sich besonders das gemeinsame Programm eines Frankfurter Vereins und der Deutschen Aidshilfe „NALtrain“ für seine Verbreitung ein. Die Tatsache, dass Naloxon verschreibungspflichtig ist, sei eine große Hürde für Konsument_innen. NALtrain fordert, dass jede_r Konsument_in (und im Idealfall seine Nächsten) Naloxon bei sich tragen.
Zu viel Halbwissen
Es gibt jedoch die Sorge unter Ärzt_innen, dass die Konsument_innen risikofreudiger konsumieren würden, hätten sie immer ein Gegenmittel parat. Diese Sorge sei nicht berechtigt, glaubt Martin Bergmaier vom Fixpunkt. „Menschen, die eine Überdosis haben, können das Spray nicht selbst anwenden, weil sie nicht richtig bei Bewusstsein sind. Das muss jemand, der wach ist, für sie tun.“ Das Nasenspray führe außerdem zu extrem starken Entzugserscheinungen, da man den Rausch unterbindet. „Naloxon verabreicht zu bekommen, kann ein traumatisches Erlebnis sein.“ Bergmaier vermeidet es, wenn möglich. „Der Kreislauf beginnt wieder von vorne. Erst stiehlt man der Person den Rausch, dann muss sie Geld für den nächsten Schuss auftreiben. Auf welche Art auch immer.“
Bergmaier erklärt, dass es momentan viel Halbwissen um die Droge bei den Besucher_innen gebe. Beim Fixpunkt wollen sie deswegen versuchen, eine Tür zu öffnen und über Fentanyl zu sprechen, bevor es richtig auf dem deutschen Markt ankommt.
Wichtiger Teil der Aufklärung über einzelne Drogen sei vor allem, dass man eine direkte Verbindung zu den Menschen aufbaue. „Im Fixpunkt können sich die Besucher_innen uns anvertrauen. Es gibt Hilfe und die Möglichkeit, über Substitutionsprogramme zu sprechen.“ Der direkte Zugang zu den Menschen sei eine der wenigen realistischen Möglichkeiten, den richtigen Umgang mit Fentanyl zu finden, sollte das Heroin tatsächlich ausfallen.
Bergmaier wünscht sich einen einfühlsameren Umgang mit Personen, die von Sucht und oft auch von Obdachlosigkeit betroffen sind: „Diese Menschen haben oft keinen Anschluss und äußern ganz elementare Bedürfnisse: ein Dach über dem Kopf, täglichen Zugang zu Nahrung oder zu medizinischen Hilfen.“ Der „funktionierende“ Teil der Gesellschaft wolle sich damit nicht konfrontieren, meint er. Doch es bedürfe vor allem eines: sehr viel Empathie.
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