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Die Zerstörung OdessasMekka für Geiger und Genießer

Im Juli zerstörten russische Raketen in Odessa 29 Architektur­denkmäler. Ein Rundgang durch die ukrainische Stadt.

Die Verklärungs­kathe­drale von Odessa wurde zum zweiten Mal in ihrer Geschichte zerstört Foto: Jae C. Hong/ap

Odessa ist ein magischer Ort, Muse von Schriftstellern und Musikern, begehrenswert und geheimnisvoll. Südliches Palmyra, Perle am Schwarzen Meer, voller Humor, immer neue Talente hervorbringend. Heimatstadt von David Oistrach und Isaak Babel. Stadt der Festivals, Mekka für Geiger und Genießer.

In der Nacht auf den 23. Juli schlugen russische Raketen in der Stadt ein. Bei den nächtlichen Luftangriffen wurden 29 Architekturdenkmäler zerstört, Gebäude von der Liste des Unesco-Welterbes. Ich möchte Sie einladen, sich in den 22. Juli 2023 hineinzuimaginieren, abends die kühle Meeresbrise, die durch die Stadt weht, einzuatmen. Den Geruch von reifen Früchten von den Bäumen der Innenhöfe und aus den Odessaer Küchen. Und dem Zirpen der Grillen zu lauschen.

Jener 22. Juli, als sich die Odessiten und Gäste der Stadt, froh über die abendliche Kühle, in die Theater aufmachten, sich die sanfte Musik aus den Cafés mit den Klängen der Straßenmusik mischte. Stellen wir uns vor, es gäbe keinen Luftalarm und das Einzige, was uns Sorgen bereiten würde, wäre die überreichliche Auswahl in den Restaurants der Stadt und der Schwindel, der uns beim Anblick der architektonischen Schönheiten ergreift.

Eine märchenhafte Liebesgeschichte

Wir spazieren durch die alten Straßen mit den faszinierenden Gebäuden italienischer, österreichischer, deutscher Baumeister. Wir bewundern die Atlanten, die die Gesimse stützen, die majestätischen Karyatiden und die Löwenköpfe an den Wänden. Wir beginnen unseren Rundgang an einem romantischen Gebäude, mit dem eine märchenhafte Liebesgeschichte verbunden ist. Seine prächtige Innenausstattung aus dem 19. Jahrhundert ist wie durch ein Wunder von den Plünderungen im Revolutionsjahr 1917 verschont geblieben. Wir stehen auf der Sabanejew-Brücke im historischen Stadtzentrum und vor uns liegt das Herrenhaus des Grafen Michail Tolstoi, den meisten Odessiten bekannt als das „Haus der Gelehrten“. Hier finden Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, aber auch wissenschaftliche Konferenzen statt.

Die Autorin

Oksana Maslowa ist Projektmanagerin und Journalistin und hat bis zum Februar 2022 in Odessa gelebt.

Schauen Sie sich nur die zarten Blumen in den Glasmalereien an, die Schnitzereien, die bemalten Decken. Das Herrenhaus gehörte zwei Tolstoi-Generationen. Und ja, Lew Tolstoi, der Autor von „Krieg und Frieden“, war ein weit entfernter Verwandter von ihnen.

Aber stellen Sie sich den Skandal vor, nicht nur in Odessa, sondern im gesamten Imperium, als Graf Michail bekannt gab, er werde eine einfache Waschfrau ehelichen. Der junge Graf hatte die zarte Elena im Haus seiner Eltern kennengelernt und sich so in sie verliebt, dass er das Mädchen heiratete und sie zur Gräfin machte. Es heißt, sie habe einen guten Geschmack gehabt. Aber auch der Graf war umfassend gebildet, sehr belesen und musikalisch. So wurde das Gebäude von 1830 durch den Geschmack des Grafen und die Bemühungen seines Sohnes erheblich verändert.

Es entstand eine Kunstgalerie, entworfen von den legendären Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer. Die beiden entwarfen viele prächtige Operngebäude, darunter auch die Oper von Odessa.

Die Galerie hatte Graf Tolstoi bauen lassen, um einen Raum für die Bilder zu schaffen, die von drei Generationen seiner Familie gesammelt worden waren. Viele von ihnen bildeten später den Grundstock der Sammlung des Kunstmuseums von Odessa. Die Tolstois finanzierten übrigens auch die Einrichtung der ersten öffentlichen Bibliothek und des Opernhauses der Stadt. Außerdem ein Krankenhaus, das bis heute in Betrieb ist. Aktuell wird es besonders intensiv genutzt.

Zwanzig verschiedene Holzarten

Jeder Raum im Gebäude ist einzigartig. Für das „Seidenzimmer“ wurden alle Stoffe maßgeschneidert. Das „Weiße Zimmer“ hatte einen Parkettboden aus zwanzig verschiedenen Holzarten und war mit venezianischen Spiegeln geschmückt. In ebendiesem Zimmer drehten sowjetische Filmemacher Szenen „aus dem Louvre“. Der nächtliche russische Angriff hat alle Räume des Gebäudes beschädigt und auch den schönen Innenhof mit dem Restaurant. Am meisten gelitten hat das „Weiße Zimmer“.

Sehen Sie dieses Klavier? Darauf spielte Franz Liszt, einer der größten Pianisten des 19. Jahrhunderts, bei seinem Aufenthalt in Odessa 1847. In jenen Jahren war Odessa ein Mekka für Künstler: Isadora Duncan tanzte hier, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky dirigierte persönlich die Premiere seiner „Pique Dame“. Nur Sarah Bernhardt wurde zunächst eher kühl empfangen. Und hören Sie das Klavierspiel? Als ob es Liszt persönlich wäre. Aber nein, es sind die Schüler der Musikschule Stoljarski, schräg gegenüber. Sie lernen hier das Klavierspiel, Geige und sogar Dirigieren. Die Schule wurden eigens für junge musikalische Talente zwischen 1930 und 1940 erbaut und von dem berühmten Violinisten und Musikpädagogen Pjotr Stoljarski selbst geleitet. Durch den russischen Luftangriff wurde die Musikschule schwer beschädigt – fast alle Fenster sind zerstört.

Aber gehen wir weiter. Sehen Sie dort das grüne Haus, das mehr einer mittelalterlichen Burg ähnelt? Es wurde 1905 gebaut und heißt „Haus Solomon“. Das Haus hat Buntglasfenster, seine Fassade ist mit Löwenköpfen verziert. Löwenköpfe sind überhaupt ein beliebtes Element in Odessa. Dieses Haus wurde berühmt als Ärztehaus. Hier lebten drei Mediziner, die, ihren jeweiligen Fachgebieten Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe entsprechend, sehr effektiv Menschenleben retteten.

Lassen Sie uns jetzt ein wenig weitergehen, dann sehen Sie – nein, keine Burg, sondern eine richtige Festung: mächtige Mauern mit Strebepfeilern, Lanzettenfenstern und achteckigen Zinnen. Das ist der Palast des polnischen Adligen Zenon Brzozowski aus dem Jahr 1852. In Odessa wird es häufig einfach „Schah-Haus“ genannt. Zwischen 1910 und 1920 lebte hier der Schah von Persien, Mohammed Ali, der nach Odessa ins Exil kam, nachdem er den Thron verloren hatte. Dem anspruchsvollen Perser gefiel die Stadt so gut, dass er dort den Palast mietete und zu seiner gewohnten Lebensweise zurückkehrte, mit einer Schar von Dienern und einem regelrechten Harem – angeblich mit 50 Konkubinen. Der nächtliche russische Angriff zerstörte einen Teil der Büroräume im „Schah-Haus“ und alle Fenster.

Es ist Zeit, dass wir auf die Hauptstraße der Stadt kommen, die Deribassowskaja. Hier, an der Ecke zur Preo­bra­schenskaja-Straße, befindet sich die wunderschöne „Passage“. Mit einem großen Innenhof, einem Glasdach, unzähligen majestätischen Skulpturen im antiken Stil und einer Vielzahl kleiner Läden. Das Gebäude sorgte seinerzeit für Furore. Nach nur zweijähriger Bauzeit konnte 1900 das staunende Publikum das wunderschöne Haus bewundern, das mit allen technischen Neuerungen der damaligen Zeit ausgestattet war: einem Fahrstuhl, Telefonen, einer Dampfheizung und sogar mit elektrischer Beleuchtung. Und was Zahl und Schönheit der Skulpturen an der Fassade angeht, kann die „Passage“ problemlos mit der Oper mithalten.

Odessas Visitenkarte

Praktisch gegenüber von der „Passage“ steht ein riesengroßes Gebäude: die Verklärungskathedrale. Es ist die größte orthodoxe Kirche in Odessa: 105 Meter lang, 42 breit und 51 Meter hoch, mit Platz für bis zu 12.000 Besucher. 1808 wurde sie eingeweiht. Zahlreiche Reisende der damaligen Zeit verglichen die Kathedrale mit den schönsten Gebäuden ihrer Art in Europa. In dieser Kathedrale wurden Fürst Michail und Fürstin Jelisaweta Woronzow beigesetzt. Woronzow verdankt Odessa seine Visitenkarte: die Potemkin-Treppe und den Woronzow-Leuchtturm im Hafen von Odessa.

1936 wurde die Kathedrale von den Bürgern des Landes, dessen Hauptstadt Moskau ist, gesprengt und als „architektonisch wertlos“ bezeichnet. Die Ingenieure hatten dann sehr viel Arbeit, denn es war nicht leicht, die Kathedrale zu zerstören. Vor der Sprengung wurden die Grabstätten der Woronzows geöffnet, die Toten wurden ihrer goldbestickten Kleider beraubt.

In den Jahren 1996 bis 1999, den ersten Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit, beschloss man, die Kathedrale wieder aufzubauen. Odessiten und wohltätige Menschen sammelten dafür Geld. 2010 wurde die wieder errichtete Kathedrale von ebenjenem Kyrill I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, eingeweiht, der heute aktiv den Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt.

In der Nacht vom 22. auf den 23. Juli wurde die Kathedrale erneut zerstört, zum zweiten Mal in ihrer Geschichte. Von einer Rakete. Das Dach stürzte ein, die Zwischendecke ebenfalls, die Rakete traf den Hauptaltar, Interieur und Ikonen verbrannten.

Als die Unesco im Januar 2023 ankündigte, das historische Zentrum der ukrainischen Stadt Odessa in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen, schien es, als ob man damit die Stadt retten könnte. Schließlich ist der Hauptzweck der Welterbeliste, Stätten zu schützen, die einzigartig sind, „Meisterwerke des menschlichen Schöpfergeistes“. Gemäß der Welterbekonvention verpflichten sich die 195 Vertragsstaaten der Konvention, keine vorsätzlichen Maßnahmen zu ergreifen, die ein Welterbegut direkt oder indirekt schädigen könnten, und Unterstützung beim Schutz von Gütern zu leisten, die einzigartig sind. Einer der 195 Vertragsstaaten ist Russland.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey.

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1 Kommentar

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  • Wegen solcher Beschreibungen war Odessa für mich immer ein Sehnsuchtsort. 2010 bin ich zum ersten Mal hin. In diese Welthauptstadt des Jugendstils. Das hat die Autorin nämlich vergessen: Odessa hat mehr als 2000 Gebäude im Jugendstil. Und die wenigsten sind restauriert. Nirgends gibt es mehr zeitlose Eleganz auf so wenig Raum.

    Was derzeit passiert, ist ein einziges russisches Verbrechen.