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Pädagoge zur Hamburger Jugendhilfe„Wir brauchen einen Kinder-Gipfel“

Da das Hilfesystem überlastet ist, fordert Linken-Politiker Volker Vödisch einen Austausch aller Akteure. Am besten mit Senatorin, Eltern und Kindern.

Viel Bedarf und wenig Kapazitäten bei denen, die in Hamburgs Kinder- und Jugend­hilfe tätig sind Foto: Christian Charisius/dpa
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Volker Vödisch, warum ist die Lage der Jugendämter dramatisch, wie Sie im Aufruf „Tu was, Hamburg!“ schreiben?

Volker Vödisch: Weil Kinder heute vermehrt unter schlechten Bedingungen aufwachsen und in Verhältnissen leben, die ihre Entwicklung und ihr Wohl gefährden. Steht das im Raum, wird ja das Jugendamt tätig und prüft, ob es so ist. Diese Fallzahlen steigen seit Jahren. Die Pandemie und die zunehmende Zahl der Flüchtlinge hat die Dramatik zusätzlich verschärft.

Das heißt, die Jugendämter ­haben schlicht zu viel Arbeit?

Ja. Das lesen wir aus den jüngsten Anfragen der Hamburger Linksfraktion zur Frage „Allgemeiner Sozialer Dienst am Limit?“ heraus. Demnach gab es von Kollegen der Jugendämter seit 2021 über 70 Überlastungsanzeigen. Und die Kapazität im Kinder- und Jugendnotdienst war zuletzt mehr als ausgeschöpft. Die jungen Menschen müssen in dieser Übergangseinrichtung länger bleiben als vorgesehen, weil passende Wohnplätze fehlen.

Was löste denn diesen Anstieg aus?

Ein Auslöser war die Kinderarmut und die Einführung von Hartz-IV. Die Entwicklung setzte um 2008 ein und stieg kontinuierlich. Es gab mehr angezeigte Kindeswohlgefährdungen und mehr Hilfen zur Erziehung, somit stiegen auch die Kosten. Damals hat man schon versucht, mit neuen Angeboten in den Sozialräumen gegenzusteuern. Aber die Zunahme blieb hoch und pendelte sich auf hohem Niveau ein.

privat
Im Interview: Volker Vödisch

65, ist Sozialpädagoge und hat fast 32 Jahre auf einem Abenteuerspielplatz auf St. Pauli gearbeitet. Er ist Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Kindheit und Jugend der Hamburger Linkspartei, die den „Tu was“-Aufruf mit initiiert hat.

Bekamen nicht die Jugendämter auch mehr Personal?

Das stimmt. Das Problem ist aber, dass neue Fachkräfte erst lange eingearbeitet werden müssen. Sie werden dabei mit sehr vielen Regelungen und gesetzlichen Bestimmungen konfrontiert. Es gibt bei den Jugendämtern einen hohen Kon­trolldruck und der Verwaltungsaufwand in diesem Job ist wirklich hoch. Kommt dazu noch die Angst, etwas falsch zu machen, werfen neue Fachkräfte das Handtuch. Der „Tu was“-Aufruf wird von der Landesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst getragen. Daher wissen wir, dass es mehr als diese 72 Überlastungsanzeigen geben müsste. Die Fachkräfte trauen sich nur nicht, das zu melden.

Was sagt so eine Anzeige?

Dass man seine Arbeit nicht mehr schafft. Es gab im Dezember sogar ein Papier der Bezirksjugendamtsleitungen, die erklärten, sie können nicht mehr alle Standards erfüllen. Etwa die der zwei Hilfeplangespräche im Jahr. Dabei sind die wichtig.

Warum fordern Sie einen Kinder- und Jugendhilfegipfel?

Reaktionen zum Aufruf

Der Aufruf für einen Hamburger Kinder- und Jugendhilfegipfel ist der Sozialbehörde bekannt. Ein Sprecher sagte, dass man mit den Verfassern einen Gesprächstermin auf Arbeitsebene suche.

Die Grünen zeigen sich offen. „Auch wir sehen die angespannte Lage im Allgemeinen Sozialen Dienst“, sagt Familienpolitikerin Britta Herrmann.

SPD-Familienpolitiker Uwe Lohmann sagt, die Behörde sei schon regelmäßig im Austausch mit Experten und Beteiligten. Die Stärkung des Kinderschutzes sei aber auch für seine Fraktion von „größter Bedeutung“.

Wir fordern so einen Gipfel, weil alle Kollegen der Kinder- und Jugendhilfe erschöpft sind. Das gilt für die Kitas, die offene Kinder- und Jugendarbeit, die Familienförderung, die Jugendsozialarbeit und die Pflegefamilien, genauso in den Jugendämtern und bei den Hilfen zur Erziehung. Überall herrscht Fachkräftemangel. Hinzu kommen hohe Krankenstände durch Arbeitsbelastung. In den Kitas steigen seit Jahren die Anforderungen. Es fehlen schlicht Fachkräfte, Stellen bleiben lange vakant. Auch weil nicht gut bezahlt wird.

Wie soll der Gipfel ablaufen?

Wir bringen einmal alle Akteure zusammen. Das sind Sozialarbeiter*innen, Er­zie­he­r*in­nen sowie Selbstorganisationen und Verbände. Sie sollen mit den zuständigen Menschen der Sozialbehörde und Fachpolitikern zusammenkommen, am liebsten auch mit der Senatorin. Das schließt auch die Nut­ze­r*in­nen und deren Selbstorganisationen ein.

Die sollen zusammen reden?

Ja und gemeinsam vorbereiten. Eltern und Kinder sollen ihre Sichtweise einbringen. Was passiert mit uns? Wie erleben wir Jugendhilfe? Was benötigen wir eigentlich? Und was kriegen wir nicht, weil es Probleme gibt? Es geht um Austausch. Dass man lösungsorientiert miteinander spricht und versucht, Vorschläge zu entwickeln. Dafür greifen wir auch Ergebnisse der Enquetekommission „Kinderrechte und Kinderschutz weiter stärken“ auf, die es 2018 schon mal gab.

Sie nennen hier viele Bereiche. Ist das nicht zu komplex für einen eintägigen Gipfel?

Der Gipfel muss sich ja nicht auf einen Termin fokussieren. Es könnte eine kleine Reihe werden. Wichtig ist, dass die Auseinandersetzung stattfindet. Und zwar mit allen, und nicht nur in informellen Gesprächen in der Behörde, wo dann immer mal ein, zwei geladen werden. Und wo nicht transparent ist, was mit den Ergebnissen passiert. Das ist die Chance eines Gipfels.

Soll er öffentlich sein?

Ja. Das ist wichtig. Natürlich richtet er sich an die Akteure, an die Sozialbehörde. Aber Öffentlichkeit sollte hergestellt werden.

Also wollen Sie die Themen nach und nach angehen?

Ich sag mal: Wir machen einen Gipfel und gucken, wie es weitergeht. Wir planen es natürlich gemeinsam. Zu den Initiatoren zählt auch der „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“ und der „Fachvorstand Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit“ von Ver.di.

Kommt die Sozialsenatorin?

Wir haben ihr in dieser Sache ein Anschreiben geschickt, aber noch keine Antwort erhalten.

Uns sagte die Sozialbehörde, dass der „Tu was“-Aufruf bekannt sei. Mit den Verfassern werde ein Gesprächstermin auf der Arbeits­ebene gesucht.

Das stimmt. Ein Mitarbeiter der Behörde hat uns geschrieben.

Auch die Grünen scheinen offen dafür. Die SPD fragte, was so ein Gipfel an Mehrwert bringen soll?

Mich wundert nicht, wenn die Grünen dafür offen sind. Sie scheinen selbst nicht darüber glücklich zu sein, wie es in der Kinder- und Jugendhilfe läuft. Die SPD ist leider etwas zurückhaltender. Ich glaube, sie verstehen noch nicht, dass wir ganz unterschiedliche Akteure zusammenbringen wollen und dass alle profitieren können.

Was würde aus dem Gipfel, wenn die Politik nicht kommt?

Dann laden wir trotzdem zum Gipfel. Das ist der Alternativplan.

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1 Kommentar

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  • Ich arbeite in einer Jugendamtsabteilung in Hamburg. Bei uns ist derzeit ein Krankenstand von ca. 50%, großenteils langfristig erkrankte Leute. Eigentlich muss ab drei Monaten ein Ersatz eingestellt werden. In der Praxis passiert das aber halt nicht, egal wie lange die Leute krank sind. In vielen Abteilungen wird unterhalb von Kindeswohlgefährdung einfach gar nicht mehr beraten, sondern direkt in sozialräumliche Angebote "verwiesen". In den Geschäftszimmern, den ersten Anlaufstellen für Hilfesuchende, ist der Krankenstand vergleichbar hoch und die, die noch da sind, bewerben sich weg. Ich rechne jeden Tag damit, dass wieder ein Kind stirbt.



    Das Ganze ist sämtlichen Akteuren der übergeordneten Ebenen seit langem bekannt. Wenn etwas passiert, wird die Verantwortung auf die Fachkräfte abgewälzt. Nach Yagmur sind damals fast alle, die übergeordnet verantwortlich waren, eine Ebene nach oben befördert worden. Wird beim nächsten Kind auch wieder so sein. Dass ein Gipfel daran irgendwas ändern wird, ist völlig realitätsfern.