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Friedlich leben in CharlottenburgKeine Spritzen auf dem Boden

Intakte Fahrradwege, wenig Geschimpfe und entspannte Menschen, die Zeitung lesen. In Charlottenburg entdeckt unsere Kolumnistin das bessere Neukölln.

Alles sauber im Bezirk Berlin-Charlottenburg Foto: Imago

N ormalerweise, wenn ich aus dem Haus gehe, muss ich darauf achten, nicht angerempelt zu werden oder selbst jemand anzurempeln. Es ist laut, ein Autofahrer beschimpft einen Radfahrer oder andersrum. Die Polizei steht vermutlich vor einer Shishabar oder das Ordnungsamt fährt bedrohlich Patrouille.

Doch seit einigen Wochen starte ich entspannt in Charlottenburg statt in Neukölln in den Tag. Charlottenburg ist ein mondäner Stadtteil der Hauptstadt, vielleicht vergleichbar mit Hamburg-Winterhude. Nein, doch nicht. Winterhude ist ein wannabe mondäner Stadtteil, in Wirklichkeit aber bourgeois-dörflich in einer langweiligen Großstadt. Charlottenburg ist weltmännisch und nicht so prätentiös wie Prenzlauer Berg.

Vergleiche mit anderen Orten in Deutschland lassen die anderen nur klein und blass aussehen. In Charlottenburg sind die Wege breit genug, als dass man sich anrempeln würde, es gibt intakte Fahrradwege, keinen Grund zu schimpfen.

Morgens beobachte ich, wie der Stadtteil ganz langsam aufwacht, mehrheitlich weiße Menschen. Nicht weiter schlimm, die Sonne lacht mich an, als hätte ich sie selbst in die Ecke eines DIN-A4-Blattes gemalt. Charlottenburg ist wie Neukölln auch international, aber weiß-bonjour-madame-international.

Neukölln ist zeig-mir-deinen-Ausweis-oder-du-wirst-abgeschoben-international. In Charlottenburg lesen die Menschen eine gedruckte Zeitung im Café. Oder sie laufen entspannt ins Büro oder zur Bahn. An den Haltestellen raucht niemand Crack und es liegen keine Spritzen rum.

Wenn hier geraucht wird, dann genussvoll, nicht gestresst. Bourgeois liegt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, vielleicht ist Catherine Deneuve-mäßig der Arm angewinkelt. Hier raucht man nicht proletarisch, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.

Keine Angst, Briefkästen zu öffnen

Wer nicht konventionell aussieht oder gekleidet ist, riskiert angestarrt zu werden. Ich bin hier nicht dauerhaft, nur zu Besuch und frage mich, warum man mit so wenig Spätis leben möchte? Haben die Menschen in Charlottenburg auch Angst, ihre Briefkästen zu öffnen? Briefkastenangst is a thing, aber nicht in Charlottenburg.

Haben Menschen hier Angst, wenn sie abends nach Hause laufen oder sind ihre Straßen alle beleuchtet? Haben sie Angst, Nazis zu begegnen oder verüben Nazis in Charlottenburg keine Anschläge und Morde?

Die Armut der Menschen in Neukölln ist der Politik egal, wie sie durch die noch immer drohenden Kürzungen zeigt. Doch Neukölln lässt das nicht auf sich sitzen und Betroffene protestieren gegen die Kürzungspolitik.

In den Stadtteil müsste sowieso viel mehr investiert werden, als die Politik das will. Die Menschen in Neukölln haben es auch verdient, friedlich in den Tag starten zu können. Neukölln würde ein kleines bisschen wie Charlottenburg, aber zum Glück nicht Charlottenburg.

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3 Kommentare

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  • "...verüben Nazis in Charlottenburg keine [...] Morde?"



    Man darf gerne eine linke Weltsicht haben, aber doch in der Realität verhaftet. Leider gibt es tatsächlich immer wieder Morde mit fremdenfeindlichem Hintergrund, aber wie viele waren es denn in den letzten zehn Jahren in Berlin?



    Übertreibung schadet hier nur einem berechtigten Anliegen.

  • Wohne seit 27 Jahren in Charlottenburg. Es ist schon sehr angenehm hier. Im Schnitt wirklich viel friedlicher und dennoch nicht so langweilig wie Spandau z.B.

    Und das war auch vor der Gentrifizierung so. 1996 mit 512 DMark Miete in der Nähe Ernst-Reuter-Platz gelebt.

  • Charlottenburg ist aber auch stark gentrifiziert. Gentrifizierung vertreibt Menschen in die Obdachlosigkeit. Schonmal daran gedacht, als man die Fassaden entlanggelaufen ist?

    Unrat und Dreck auf den Straßen ist mir daher lieber. Und den räumen wir ja auch regelmäßig wieder auf. Und nein, ich spreche jetzt nicht von Neukölln, sondern vom Samariterviertel in Friedrichshain oder, außerhalb Berlins, nahe der Hafenvokü oder dem Schulterblatt.