Regierung in den Niederlanden: Premier Rutte tritt ab
Die niederländische Koalition zerbricht an einem Streit über die Asylpolitik. Im November könnte es Neuwahlen geben.
Nach anderthalb Jahren kommt damit ein schnelles Ende der vierten Legislaturperiode Ruttes und der Regierungskoalition, die von der christdemokratischen Partei CDA komplettiert wird. Die Meinungsverschiedenheiten untereinander seien „leider unüberbrückbar“ gewesen, so der seit 2010 regierende Premier auf einer Pressekonferenz. Die verschiedenen Standpunkte seien kein Geheimnis. Das Ende nannte Rutte „sehr bedauerlich, aber eine politische Tatsache“. Beschlossen hätten es alle Koalitionsparteien einvernehmlich. Damit widersprach er Gerüchten, die Juniorpartnerin ChristenUnie hätte das Handtuch geworfen.
Rutte kündigte an, am gleichen Abend dem König schriftlich den Rücktritt seiner Regierung mitzuteilen. Das Kabinett befindet sich damit wie schon 2021 in einem Übergangs-Status, in dem es die laufenden Geschäfte kommissarisch leitet. Willem-Alexander kommt aus dem Urlaub zurück, um am heutigen Samstag mit Rutte die Lage zu besprechen. Am Montag wird das Parlament in Den Haag voraussichtlich über das Ende der Koalition debattieren. Eigentlich haben die Abgeordneten seit Freitag Sommerferien. Die VVD hatte der Regierung ein Ultimatum gestellt, bis zum Ferienbeginn eine Lösung der asylpolitischen Streitigkeiten zu finden.
Defizite bei der Versorgung von Asylsuchenden
Mit der Forderung, den Familiennachzug deutlich zu beschränken, stieß die VVD besonders bei der ChristenUnie auf Widerstand. CU-Vizepremier Carola Schouten betonte nach den gescheiterten Verhandlungen, dass es für die Partei sehr wichtig sei, dass „jemand, der aus einer Kriegssituation kommt, auch seine Kinder hierherbringen kann“. Die VVD hingegen will mittels eines stark eingeschränkten Familiennachzugs den Zustrom von Asylbewerber*innen senken.
Derzeit geht man in den Niederlanden von 70.000 Anfragen im laufenden Jahr aus – ein Viertel mehr, als noch Ende 2022 einkalkuliert. Zuletzt hatten die vier Koalitionsparteien einen sogenannten „Notbremsen“-Mechanismus diskutiert, der den Familiennachzug situationsabhängig einschränken sollte.
Dass man sich auch über diesen Vorschlag nicht einig wurde, zeigt, wie angespannt die asylpolitische Lage in den Niederlanden seit einem Jahr ist. Bereits im vergangenen Sommer fehlten dem staatlichen System der Unterbringung von Asylbewerber*innen zahlreiche Unterkünfte. Vor dem zentralen Anmeldungszentrum Ter Apel in der Provinz Groningen mussten immer wieder Menschen, die auf ihre Registrierung warteten, auf der Straße schlafen. Im Spätsommer waren es mehrere Hundert. Die hygienischen Verhältnisse führten dazu, dass erstmals die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Land aktiv war. Für den Sommer wird eine Wiederholung dieser Zustände befürchtet.
Zwei Drittel der Bevölkerung für Asyl-Stop
Die niederländische Gesellschaft reagierte 2022 äußerst gespalten: Bestürzung und Scham über die Lage in Ter Apel stand die zunehmende Weigerung von Kommunen gegenüber, auf ihrem Gebiet zusätzliche Unterkünfte für Asylbewerber*innen zu errichten. Der Plan, diese per Gesetz über das gesamte Land zu verteilen, stößt bis heute vielerorts auf Ablehnung. In einer Umfrage sprachen sich letzten Spätsommer mehr als zwei Drittel für einen „vorübergehenden Asyl-Stop“ aus. Nicht zuletzt in der VVD gibt es dafür zahlreiche Stimmen.
Offenbar will sich die stärkste Partei der letzten vier Parlamentswahlen nun beim Thema Asylpolitik deutlich profilieren. Vizepremierministerin Sigrid Kaag (D66) sprach im Nachhinein von „unnötigen Spannungen“. Der Kurs der VVD jedoch passt zum jüngsten europäischen Macherimage Ruttes, der auf EU-Ebene gemeinsam mit Giorgia Meloni an einem Flüchtlings-Deal mit Tunesien bastelt. Bei den Neuwahlen, die nach derzeitigem Stand Mitte November stattfinden könnten, dürfte das Thema in den Fokus rücken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug