Migrationspolitik in den Niederlanden: Von wegen liberal

Die Niederlande haben den Ruf, besonders offen und vorurteilsfrei zu sein. Doch in der Migrationspolitik fährt das Land einen restriktiven Kurs.

Besuch in Tunesien: Mark Rutte mit Ursula von der Leyen, der tunesischen Premeierministerin Najla Bouden und der italienischen Premeierministerin Giorgia Meloni

Auch Mark Rutte besuchte im Juni die tunesische Premierministerin Najla Bouden (zweite von rechts) Foto: Riadh Dridi/ap

BERLIN taz | Der niederländischen Ministerpräsident Mark Rutte hat im Streit über hohe Flüchtlingszahlen sein Amt verloren. Dabei war es keineswegs so, als habe sich das Land nicht seit Jahren darum bemüht, diese zu senken – und dabei keine maßgebliche, wenngleich oft übersehene Rolle innerhalb der EU eingenommen. Dass die Niederlande bis heute als liberal gelten, half der Regierung, auch umstrittene Ansätze voranzutreiben.

So war es ein Niederländer, der sich 2016 dafür starkmachte, afrikanischen Staaten bei der Migrationskontrolle und den Abschiebungen die Pistole auf die Brust zu setzen: Er schlage eine „Mischung aus positiven und negativen Anreizen“ vor – so beschrieb der sozialdemokratische EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans damals die Linie der neuen EU-Afrikapolitik. Drittländer, die „effektiv“ mit der EU zusammenarbeiten, seien zu „belohnen“, für die anderen solle es „Konsequenzen geben“. Zuckerbrot und Peitsche also.

Eins der von Timmermans angedachten Instrumente: Sogenannte Laissez-passers, Pass­ersatzpapiere für Abschiebungen, die die EU-Staaten selber nach vermuteter Staatsangehörigkeit ausstellen können. Für die afrikanischen Staaten war das Teufelszeug, für die EU-Ausländerbehörden wäre es eine Art Blankoscheck für Abschiebungen gewesen. Ein entsprechendes Pilotprojekt handelte die niederländische Regierung 2017 erstmals im Auftrag der EU mit Mali aus – das die Regierung in Bamako nach wütenden Protesten im Inland allerdings gleich wieder stoppte.

Nur ein Jahr später waren es die Niederlande, die gemeinsam mit Deutschland im westafrikanischen Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, eine neue Grenzschutzeinheit bezahlten, ausbildeten und ausrüsteten. Dabei hat Niger eine Nationalpolizei, eine Gendarmerie, eine Nationalgarde und eine Armee, die alle auch mit Grenzschutz befasst sind. Doch die neue Truppe sollte vor allem die Grenze zum bevölkerungsreichen Nigeria im Blick behalten – dem Staat, aus dem die EU für die Zukunft mit besonders vielen irregulären Mi­gran­t:in­nen rechnet.

Kein Mitglied in der „Koalition der Willigen“

Auch bei der jüngsten diplomatischen Offensive, Anfang Juni in Tunis, war es der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der EU-Kommis­sions­präsidentin Ursula von der Leyen und Italiens rechts­ex­tre­me ­Ministerpräsidentin ­Giorgia Meloni begleitete. Gemeinsam wollten sie – flankiert durch fast eine Milliarde Euro Hilfsgelder – Tunesien dazu bringen, beim Grenzschutz wieder der effiziente Außenposten zu werden, der das Land zu Zeiten des 2011 gestürzten Diktators Ben Ali lange war. Bisher allerdings blieben die Anstrengungen ohne Erfolg.

Bei solchen Bemühungen um die Externalisierung des Grenzschutzes waren die Niederlande stets vorn mit dabei. Als jedoch Deutschlands Innenminister Horst Seehofer 2018 eine „Koalition der Willigen“ schmiedete, um Italien und Malta aus Seenot gerettete Flüchtlinge abzunehmen, hielten sich die Niederlande zurück und nahmen niemand auf.

Auch im Inland war die Menschenrechtsbilanz in letzter Zeit düster. Seit 2014 werden Flüchtlinge in einem zentralen Aufnahmezentrum in Ter Apel untergebracht. Das Lager wurde als „effizient“ und „vorbildlich“ gelobt. Die Situation vor Ort verschlechterte sich über die Jahre aber so sehr, dass Ärzte ohne Grenzen (MSF) dort im September 2022 einen Nothilfeeinsatz starten mussten. Hunderte Menschen waren gezwungen, unter offenem Himmel zu schlafen, ein Säugling starb. „Diese Menschen haben eine schreckliche Flucht hinter sich. Sie so zu behandeln gefährdet auch ihre mentale Gesundheit“, sagte die MSF-Geschäftsführerin Judith Sargentini dem Spiegel.

Im vergangenen Jahr regis­trierte das Land schließlich rund 35.000 Asyl-Erstanträge. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl waren dies etwas weniger als in Deutschland. Die Anerkennungsquote stieg indes auf ein Rekordhoch von über 87 Prozent – deutlich mehr als hierzulande.

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