Siemens und elektronische Musik: Tonspuren aus Siemensstadt

„Studio Stadt“ heißt eine materialreiche Ausstellung im Kunstraum Scharaun. Sie widmet sich den Siemens-Studios für elektronische Musik.

zwei gerahmte Zeichnungen an einer Wand

Die Papierarbeiten von Michaela Melián, Installationsansicht im Kunstraum Scharaun Foto: Jaro Straub

Ein ganzer Stadtteil, der nach einem Industrieunternehmen benannt worden ist – das ist die Berliner Siemensstadt. Am Stadtrand im Nordosten gelegen, ist der Ortsteil von Charlottenburg ein Baudenkmal, das als Beispiel des Neuen Bauens mit Gebäuden von Hans Scharoun, Walter Gropius, Otto Bartning und anderen auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes steht. Heute ist Siemensstadt einerseits ein Zeugnis vom einstigen sozialen Engagement deutscher Industrieller, andererseits ein Relikt der Deindustrialisierung: Siemens wanderte während des Kalten Krieges nach München ab und hinterließ leere Werkshallen und nutzlos gewordene Infrastruktur wie die Siemensbahn.

Die Ausstellung „Studio Stadt“ im Kunstraum Scharaun, der sich in einer Wohnung in einem Apartmentgebäude von Hans Scharoun von 1930 befindet, bringt nun die beiden Siemens-Standorte im Zeichen der Musik zusammen: Aufhänger ist das Siemens-Studio für elektronische Musik, welches das Unternehmen von 1960 bis 1966 in München betrieb. Leiter war der Komponist Josef Anton Riedl, der für Siemens einen Imagefilm mit dem Titel „Impuls der Zeit“ (1959) mit elektronischen Klängen vertonte, für die Siemens-Ingenieure die Instrumente gebaut hatten, mit denen wiederum das Studio bestückt wurde.

Studio Stadt. Peripherien elektronischer Musik, Kunstraum Scharaun, bis 30. Juli, www.scharaun.de

Der Film ist als Ausgangspunkt der Ausstellung, die von Florian Wüst, Jaro Straub, Tim Tetzner und Ralf Homann kuratiert wurde, in der Küche der Galeriewohnung zu sehen. Das Studio, das mit Lochkarten gesteuert werden konnte, wurde einerseits für kommerzielle Auftragsproduktion für Fernsehen und Theater genutzt, andererseits arbeiteten hier Avantgarde-Komponisten wie John Cage, David Tudor, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Dieter Schnebel, unter anderem mit dem ersten Vocoder, der für die musikalische Verwendung zur Verfügung stand.

Antiquiertes Equipment

Heute steht das Studio, weitgehend einsatzbereit, im Deutschen Museum in München, wo unter anderem die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián mit dem antiquierten, analogen Equipment gearbeitet hat. Zu sehen sind in der Ausstellung zwei Papierarbeiten, die für die Videoinstallation „Speicher“ entstanden sind, für die Melián das Studio wieder zum Leben erweckt hatte.

Im drastischen Gegensatz zu den filigranen Arbeiten stehen die großen Fotografien der klobigen elektronischen Instrumente im Physiksaal-Look von Johanna Diehl an der gegenüberliegenden Wand, mit denen in den 1950er und 60er Jahre die erste Generation elektronischer KomponistInnen arbeitete. Eine Art moderne Fortführung solcher Produktionstechniken und der mit ihnen produzierten Klänge ist die Soundinstallation „Flächenfinder spektral01“ von Boris Hegenbart, bei der ein Kontaktmikrophon am Fenster Geräusche aus dem Umfeld der Galerie aufzeichnet und mit Verzögerung verfremdet im Innenraum wiedergibt, während sich das Fensterglas verdunkelt und die Vegetation vor dem Fenster plötzlich irreal und künstlich erscheint.

Mit der Geschichte eines anderen Siemens-Standortes in Berlin beschäftigt sich der Studienraum „Helle Fabrik, Dunkelkammer Produktion“ im Schlafzimmer der Wohnung, für die Jochen Becker Material zum Siemens-Plania-Werk in Lichtenberg zusammengetragen hat, auf dessen Gelände sich heute das Dong Xuan Center befindet.

Die Industrie mag zu profitableren und besser vernetzten Orten weitergezogen und Industriebrachen, Fabrikruinen und Werkswohnungen ohne Arbeiter als Mieter hinterlassen haben, aber so entstehen in den deindustrialisierten Zonen auch neue Freiräume, die von vietnamesischen HändlerInnen oder von KünstlerInnen auf der Suche nach günstigen Ausstellungsräumen, die es in der Innenstadt nicht mehr gibt, genutzt werden können. Wer die materialreiche Ausstellung, für die man etwas Zeit mitbringen sollte, gesehen hat, der wird danach auch die heute etwas angegammelte Großsiedlung Siemensstadt mit anderen Augen sehen.

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