Historiker zu Klang und Ideologie: „Naturwissenschaften sind Kultur“

US-Technikhistoriker Myles W. Jackson über Stimmgabeln im 19. Jahrhundert und die bizarre Karriere des Trautoniums, das in den 1920ern erfunden wurde.

Eine Person in Anzug an einem Gerät mit vielen Knöpfen

Der Komponist und Erfinder Oskar Sala (1910–2002) an seinem Trautonium im Jahr 1956 Foto: Ullstein Bild/getty images

taz: Myles Jackson, in Ihrem Buch „Harmonious Triads“ zitieren Sie Schiller, der postuliert hatte, Wandel in der Politik komme man am besten mit ästhetischen Prämissen bei. Wenn man das auf die von Ihnen porträtierten Erfinder Ernst Florens Friedrich Chladni und Wilhelm Eduard Weber anwendet, welche Ästhetik schwebte denen vor?

Myles W. Jackson: Wilhelm Eduard Weber war von Berufswegen Physiker und sehr engagiert. Er war der Meinung, dass die Freiheit der Lehre wichtig war, für ihn und für viele Deutsche im 19. Jahrhundert, die zum Bildungsbürgertum gehörten. Für Weber war Musik, überhaupt Ästhetik, eine wichtige Korrektur der Naturwissenschaften. Kultur war grundlegend für die Menschwerdung. Viele Naturwissenschaftler waren zugleich Musiker.

Der Forscher:

Myles W. Jackson, geboren 1964 in Patterson, New Jersey, ist seit 2022 Professor für Technikgeschichte an der Universität Princeton. Studiert hat er unter anderem 1985 zu DDR-Zeiten in Leipzig. Er stammt aus einer Gewerkschafterfamilie, beide Großväter waren bei den Wobblies. Jackson ist Stipendiat der American Academy in Berlin.

Werke:

„Harmonious Triads. Physicists, Musicians and Instrument Makers in 19th-Century Germany (2006).

„Fraunhofers Spektren: Die Präzisionsoptik als Handwerkskunst“ (2009)

„Engineering Fidelity: Early German Radio, the Trautonium, and Electronic Music“ (2024)

Sie beschreiben, wie Uhrmacher und Mechaniker an der Schwelle zum 19. Jahrhundert gereist sind, um vom Ausland Impulse aufzunehmen. Mit den von ihnen erfundenen Stimmgabeln und Metronomen haben sie Musik vereinheitlicht.

Es gab in europäischen Städten unterschiedliche Maße und das war ein Problem etwa für Sänger:Innen. Wenn das a zu hoch ist, führte das zu Stimmproblemen. Das Argument war, Musik solle vereinheitlicht werden, damit Beethoven sagen kann, mit dem Metronom habe ich meine neue Sinfonie vorgestellt. Den Erfindern der Stimmgabel ging es um Standardisierung. Und es entstand eine interessante Debatte. Soll nur der Komponist das Recht haben, ein Werk zu komponieren? Dürfen Musiker nur zuhören? Oder ein Werk frei interpretieren?

Menschen im 19. Jahrhundert hatten die Möglichkeit, sich Musik im Konzert anzuhören oder selbst Musik zu spielen. Wie hat sich dabei ein Gehör herausgebildet? Auf welche Weise haben Mechanik und Mathematik die akustische Lehre vorangebracht?

Es gab zwar weder Radio noch Tonträger, aber viele Leute waren musikalisch bewandert. Nicht nur im Bildungsbürgertum. Musiker sind bereits auf Tournee gegangen. Mehr Menschen konnten diese Konzerte anhören. Auch der Einfluss von Napoleon war bedeutsam. Chladni hat ihm 1809 vorgespielt. Napoleon hat einen Preis ausgeschrieben, um das Problem zu lösen, wie man Chlad­ni’sche Klangfiguren feststellt. Die französische Mathematikerin Sophie Germain hat das Rätsel dann gelöst und die Gleichung für die Chladni’schen Klangfiguren erstellt.

Das Trautonium, Ihr derzeitiger Forschungsgegenstand, war Nebenprodukt der Radio-Übertragungstechnik. In den frühen 1920ern sendete das Radio in Deutschland erstmals. Damit einher ging die Übertragung von Musik. Der Beruf des Toningenieurs rückte in den Fokus. Aufnahmen aus der Frühzeit des Radios klingen verrauscht. Mikro­fonierung stellte ein großes Problem dar. Wie kam es zur Erfindung dieses Synthesizer-Prototyps?

Es gab in Berlin eine „Rundfunkversuchsstelle“, gegründet in der Weimarer Republik am 3. Mai 1928. Der Musikwissenschaftler Leo Kestenberg, Mitglied der USPD, leitete ihr Gremium. Bereits im Oktober 1923 fand die allererste Übertragung statt, dabei wurde ausschließlich Musik gespielt. Der Berliner Rundfunk war der erste Radiosender des Landes. Ab 1924 hieß er Funk-Stunde Berlin. Es existieren Briefe von erzürnten Hörern, die ein Streichquartett von Beethoven im Radio gehört hatten und davon überzeugt waren, da hätte gar keine Geige gespielt, sondern fälschlicherweise eine Flöte.

Wie kam das?

Die Klangfarbe der Geige klang durch die Tonqualität der Übertragung verzerrt. Das Mikrofon konnte noch nicht klar aufzeichnen. Zudem bereiteten die Lautsprecher Probleme. Radio war bereits populär, es gab viele Sendungen. Der Frequenzumfang musste deswegen gekürzt werden, sonst hätte es Interferenzen gegeben.

Weshalb hört sich eine Geige an wie eine Flöte?

Das kommt auf die Frequenz an. Je höher sie ist, desto mehr klingt die Geige nach Flöte. Das liegt an den Obertönen. Timbre ergibt sich aus dem Verhältnis der Obertöne. Verhältnisse der Lautstärken der Obertöne bestimmen die Klangfarbe. Helmholtz hat das 1859 erforscht und 1863 erweitert. Das Problem war, dass die Obertöne bestimmte Frequenzen wählen. Hohe und niedrige Frequenzen sind schwierig zu übertragen.

Wer waren die Pioniere?

In der Rundfunkversuchsstelle war Friedrich Trautwein tätig. Und Oskar Salas arbeitete dort als Student, er war Schüler von Hindemith. Sie haben die verschiedenen Mikrofone getestet und Lautsprecher, um zu sehen, inwieweit die Apparate die Obertöne stören. Trautwein war Physiker und Ingenieur, er hat sich intensiv mit der Technik auseinandergesetzt. Er konnte zudem Orgel spielen. Im Ersten Weltkrieg war er Funker.

Ist deren Erfindung, das Trautonium, mit dem sowjetischen Theremin vergleichbar, das den Klang anderer Instrumente nachahmen kann?

Exakt. Als das Trautonium erfunden war, haben die beiden Forscher zunächst festgestellt, dass es vokale Sounds produziert: „öhh“, „ähh“, „ühh“. Dann wurde beschlossen, das Trautonium so umzurüsten, damit es wie ein Musikinstrument klingt. Was die Erprobung des Radios mit der Erfindung des Trautoniums verbindet, ist Klangfarbe. Ingenieure, Psychologen und Physiologen haben festgestellt, dass Timbre nicht statisch ist. Klangfarbe kann sich ändern. Heute heißt das Sound-Envelope, Klangumgebung.

Sie schreiben, dass High Fidelity nicht nur auf das Trautonium und den Rundfunk anzuwenden sei, sondern auch auf die Gesinnung von Trautwein und Sala. Können Sie das bitte erläutern?

Oskar Sala war nie Parteimitglied der NSDAP, aber er hat Goebbels das Volkstrautonium vorgeführt. Die Reichsmusikkammer hat das Trautonium unterstützt. Auch beim Programm „Kraft durch Freude“ gab es Konzerte. 1941 etwa wurde es in Holland vorgeführt. Trautwein war ein überzeugter Faschist und SA-Mitglied. Das Rundfunk-Trautonium ist von Oskar Sala konstruiert worden. Zwischen ihm und Trautwein kam es wegen Patentrechten zu Streitigkeiten. Sie hatten dann ab 1936 nichts mehr miteinander zu tun.

Das Trautonium sollte als Instrument in Serie gehen und erschwinglich sein. Was war passiert, dass es nicht zur faschistischen Wunschmaschine wurde?

Ab 1934 unterstützte die Firma Telefunken zunächst den Bau des Instruments. Was die beiden Konstrukteure Trautwein und Sala betrifft, ist ihr Wirken in der Hochschule für Musik verankert geblieben, da haben sie sich entzweit. Nach 1945 wurde das Trautonium wieder hergestellt, ohne die NS-Verbindung. Das hat Sala geschickt angestellt. Er hat immer behauptet, es kann diese mysteriösen Töne produzieren. Auch Alfred Hitchcock hat das Trautonium in Soundtracks seiner Filme eingesetzt, etwa für „Die Vögel“ (1963).

In der elektronischen Musikkultur ab Ende der 1980er Jahre wurde das Trautonium wiederentdeckt, die NS-Geschichte blieb außen vor.

Dabei ist es schon vor 1939 in dem Film „Stürme über dem Mont Blanc“ mit Leni Riefenstahl eingesetzt worden. Die Musik ist von Paul Dessau. Er hat das Trautonium benutzt, um einen Flugzeugmotor zu erzeugen. In der Wirtschaftswunderzeit der 1950er wurde das Trautonium dann in Werbespots eingesetzt, etwa für Coca-Cola. Das Instrument spiegelt die Modernität wider. Die Band Kraftwerk hatte Anteil an der Wiederentdeckung von Sala und Trautwein in den 1980ern. Florian Schneider war beim 90. Geburtstag von Oskar Sala dabei.

Eine Frage zu Ihrer Arbeitsweise: Was wollen Sie damit bezwecken, wenn Sie als Historiker Geschichte durch Naturwissenschaften erzählen?

Da bin ich streng und konservativ, obwohl ich mich als Linker bezeichnen würde. Ich bin davon überzeugt, dass Naturwissenschaften selbst Kultur sind. Dann muss ich an spezifischen Beispielen diese Gleichungen und Theorien zeigen. Wie ich Probleme löse, ist durch meine Ausbildung beeinflusst. Es gibt tolle Arbeiten von Mathematik-Historikern, Andrew Warwick ist das beste Beispiel. Es ist mir wichtig, dass nicht nur Kulturgeschichte zählt, sondern auch Wissenschaftsgeschichte und Technikgeschichte. Wenn ich Geschichte klar erzähle, werden Leser sagen, so weit voneinander entfernt liegen Naturwissenschaften und Geschichte nicht.

Für was steht dann heute das Trautonium? Wenn man seine beiden Erfinder anschaut, haben die sich im NS schmutzig gemacht.

Wir haben ein Trautonium, das in der liberalen Weimarer Republik erfunden wurde. Durch die Nazizeit ist es ziemlich populär geworden, geriet dann in Vergessenheit und hat ab Ende der 1950er neues Leben bekommen. Es wurde zum Instrument, dessen Geschichte gesäubert werden sollte. Zunächst ging es nach 1945 darum, dass das Trautonium traditionelle Musik nachahmen sollte.

Das Progressive der Weimarer Republik und das Völkische der Nazizeit spiegelt sich beides im Trautonium?

Ideologie wird niemals Technik völlig beeinflussen. Ein Musikinstrument kann von verschiedenen Ideologien vereinnahmt werden, für ihre Interessen. Zum Beispiel im Film „Anders als du und ich“ von 1957, es ist der erste Film über Homosexualität in der BRD. Im Soundtrack wurde auch das Trautonium angewendet. Darin sollte es befreiend klingen.

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