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Treffen der Nato-VerteidigungsministerNeuer Ärger statt Antworten

Die Mitgliedsstaaten sind sich über Geld und Aufträge für die Rüstungsindustrie uneins. Was Kyjiws Ambitionen angeht, ist ein Kompromiss in Sicht.

Jens Stoltenberg begrüßt den ukrainischen Verteidigungsminister Oleksii Reznikov beim Nato-Treffen Foto: Yves Herman/reuters

Brüssel taz | Jens Stoltenberg gab sich optimistisch: „Wir sind kurz davor, uns über alle wichtigen Fragen zu einigen“, erklärte der Nato-Generalsekretär nach einem Treffen der Verteidigungsminister am Freitag in Brüssel. Von dem mit Spannung erwarteten Nato-Gipfel in Vilnius im Juli werde ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine ausgehen.

Doch in der Praxis sind noch alle wichtigen Fragen offen. Wie wird die Ukraine näher an die US-geführte Militär-Allianz herangeführt? Welche Sicherheitsgarantien kann es für die Zeit nach dem Krieg geben? Was wird aus dem immer wieder verzögerten Nato-Beitritt Schwedens? Und wer wird Nachfolger von Stoltenberg? Das zweitäige Treffen in Brüssel brachte keine Antworten, sondern neuen Ärger.

Streit gab es vor allem über das Geld – und um lukrative Aufträge für die Rüstungsindustrie. Stoltenberg schwor die 31 Nato-Länder auf das Zwei-Prozent-Ziel ein. „Die zwei Prozent werden nicht mehr die Obergrenze sein, nach der wir streben“, erklärte der Norweger. Beim Nato-Gipfel in Vilnius sei ein entsprechender Beschluss zu erwarten. Aus dem vagen Richtwert soll ein bindendes Ziel werden.

Die Mehrheit der Mitgliedsländer liegt aber noch deutlich unter zwei Prozent. Zu dieser Gruppe gehört mit rund 1,5 Prozent auch Deutschland. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hofft zwar, dass die Nato-Vorgabe 2024 erreicht wird. Dafür müsste der Verteidigungsetat allerdings um ein Viertel aufgestockt werden – angesichts knapper Kassen ein politischer und finanzieller Kraftakt.

Keine Prügel

Pistorius bekam deswegen zwar keine Prügel in Brüssel. Schließlich hat Deutschland bei den Waffenlieferungen an die Ukraine eine Führungsrolle übernommen. Auch mit dem Luftmanöver „Air Defender 23“ kann Pistorius punkten. Doch beim Geld hört der Spaß auf: Das Zwei-Prozent-Ziel werde „für die meisten Volkswirtschaften nicht von jetzt auf gleich erreichbar sein“, betonte er. Die Nato müsse sich „Schritt für Schritt daran herantasten“.

Offenen Unmut gab es über die Rüstungspolitik. Stoltenberg hatte ein Treffen mit der Industrie angesetzt, jedoch nicht alle wichtigen europäischen Firmen eingeladen. Die Auswahlkriterien seien nicht fair gewesen, kritisierten Industrievertreter. Auch Spanien fühlte sich ausgegrenzt. Im Mittelpunkt hätten Lieferanten von „kampfentscheidender Munition“ für die Ukraine gestanden, versuchten Nato-Diplomaten zu besänftigen.

Die Nato, aber auch die Europäische Union, ringt seit Wochen mit schwindenden Munitionsvorräten. Vor allem bei Artilleriegranaten kommt die Industrie mit der Produktion nicht hinterher. Ein weiteres Problem ist, dass jedes Land die lukrativen Aufträge am liebsten an die heimische Industrie vergibt. „Wir werden nie ans Ziel kommen, wenn jeder nur an seine Industrie denkt“, kritisierte die niederländische Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren.

Ausgesprochen schwierig gestaltet sich auch die Nachfolge von Stoltenberg. Dessen Vertrag läuft Ende September aus. Doch eine Einigung auf einen Nachfolger ist nicht in Sicht. Als Anwärter galten zuletzt die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Pistorius brachte auch eine Verlängerung für Stoltenberg ins Gespräch. Doch der winkt ab: „Ich strebe keine Verlängerung an“, sagte er.

Mit „Roadmap“ zufrieden

Ein Kompromiss zeichnet sich immerhin bei der Frage des künftigen Verhältnisses zur Ukraine ab. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zunächst den Nato-Beitritt gefordert. Andernfalls werde er nicht zum Gipfel nach Vilnius reisen. Angesichts des harten Widerstands aus den USA und Deutschland will sich Selenskyj nun aber mit einer „Roadmap“ für sein Land zufrieden geben.

Nach Darstellung von Stoltenberg enthält der Fahrplan drei Komponenten: Zum einen soll die Ukraine noch näher an die Nato herangeführt werden. Die ukrainische Armee soll dafür Nato-Standards übernehmen. Außerdem ist ein Nato-Ukraine-Rat geplant, der die politische Integration vorantreibt. Last but not least will die Militärallianz auf den sonst üblichen Aktionsplan zur Mitgliedschaft verzichten – damit entfällt eine große Hürde.

Der Beitritt selbst bleibt jedoch tabu, solange der Krieg tobt. „Das muss allen klar sein, weil dann die Nato unmittelbar Kriegspartei wäre“, sagte Pistorius. Als Mitglied könnte die Ukraine sofort militärischen Beistand nach Artikel 5 des Nato-Vertrags einfordern – auch Deutschland müsste dann womöglich gegen Russland kämpfen.

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3 Kommentare

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  • Man kann Pistorius hier ruhig beim Wort nehmen, bezeichnend genug, er würde auch im Fall eines russischen Angriffs auf das Baltikum "womöglich" nicht gegen Russland kämpfen wollen und man kann auch nach Artikel 5 nicht einfach was "einfordern", das stimmt nicht. Auch wenn es vor allem in Ländern wie Deutschland zur allgemeinen Beruhigung natürlich gern nacherzählt wird und manche offenbar glauben, die NATO, naja das wär so'ne Art Europa-Armee mit Überseeverstärkung und wozu braucht es dann noch eigene, auch finanzielle Anstrengungen. Nein. Erst recht in dem Fall müsste Einigkeit erzielt werden, die Beistandspflicht greift auch nicht unter allen Umständen und es käme auf jedes einzelne Mitglied an. Das könnt natürlich grad im Fall der Ukraine so richtig "interessant" werden und schon deshalb lässt man davon lieber die zittrigen Finger. Der Preis ist hoch, eben ein russisches Veto, so handfest wie praktisch: Wladimir Putin, und allein Wladimir Putin bestimmt, wer sich der NATO anschließen darf und wer nicht, völlig unstrittig jetzt im Fall der Ukraine. Er muss diesen, seinen Krieg nur fortsetzen, auf die ein oder andere Weise, oder immer grad rechtzeitig neu zündeln, und Kyjiw darf sich immer wieder anhören: "Freunde, so geht das aber nicht." Eines der wesentlichen Kriegsziele Russlands ist bekannt! Wir dürfen feststellen auch erreicht. Aber nicht mal Russland ist so zynisch wie dieser sog. Westen, wie er da lieber industriell Waffen nachliefert und Munition für die nächsten hunderttausend Toten, statt dem ganzen Krieg mit einem diplomatischen Handstreich seine Grundlage zu entziehen. Was Putin somit außerdem erreicht hat, das muss ich leider einräumen, ist das Vertrauen und die Achtung in den sog. Westen mancher zu erschüttern. Das Erzwingen einer empfindichen Selbstoffenbarung, der nächsten nach Afghanistan. Aber Putin ist nicht im Ansatz groß genug oder zu fürchten als dass man sich und sein Versagen hinter dem verstecken könnte. Die Nummer zieht nicht.

    • @Tanz in den Mai:

      Sie bleiben unklar und wohl absichtlich nebulös. Was soll denn bspw. der diplomatische Handstreich des Westens sein, der sofort alle Probleme löst oder - versteht man Sie da richtig? - den Krieg sofort beendet? Ihre Ansicht ist augenscheinlich, dass der Krieg im Interesse des Westens läge und auch von ihm initiiert sei. Naja, wer das glaubt...

  • 2% für Krieg ist natürlich wenig. Richtige Staaten brauchen mindestens 5% oder besser 100%, um sich gegen Nachbarn durchzusetzen.