Buch über Russlands Krieg gegen Ukraine: Und noch ein sarkastischer Segen

Historiker Serhii Plokhy, Kenner der Geschichte, zoomt in seinem Buch „Der Angriff“ auf Kipppunkte, die zum Krieg in der Ukraine führten.

Blick in eine winterlich gekleidete Menschenmenge, ein Mann hält ein Plakat mit dem Porträt Boris Jelzins in der Hand

1993, entscheidendes Jahr: Unterstützung für Boris Jelzin bei einer Demo in Sankt Petersburg Foto: Yuri Belinsky/imago

Blickt man heute auf die vielen Wegmarken, die es bis zur Eskalation in der Ukraine im Februar 2022 gegeben hat, so sind einige davon offensichtlich: Das Budapester Memorandum im Jahr 1994 etwa, bei dem die Ukrai­ne ihre Atomwaffen abgegeben hat. Der zweite Tschetschenienkrieg in den nuller Jahren. Die Orange Revolution. Der Georgien­krieg 2008. Und natürlich die Annexion der Krim 2014 und die ausbleibenden Reaktionen des Westens im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen.

Aber auch innerhalb Russlands gab es, gesellschaftspolitisch gesehen, eine Art Inkubationszeit. Der US-Historiker Serhii Plokhy bewertet in seinem neuen Buch „Der Angriff“ die Verfassungsänderung, die Boris Jelzin im Dezember 1993 durchsetzte, als Zäsur.

Jelzin habe demnach die Russinnen und Russen für „noch nicht demokratiereif“ gehalten, der damalige russische Präsident sagte kurz zuvor einem Reporter: „In einem Land, das sich an Zaren oder Parteibonzen gewöhnt hat; einem Land, in dem sich keine klar definierten Interessengruppen mit deutlich erkennbaren Führungspersönlichkeiten herausgebildet haben, in dem normale Parteien bestenfalls im embryonalen Zustand vorhanden sind; einem Land mit überaus schwacher exekutiver Disziplin und grassierendem Nihilismus in Bezug auf das Gesetz – könnte man in einem solchen Land ausschließlich oder in erster Linie auf das Parlament setzen?“

Diese Absage an die russische Demokratie zwei Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion habe das spätere autoritäre Präsidialsystem mit ermöglicht, so Plokhy. Die Evaluation der Jelzin-Jahre zählt zu den spannendsten Passagen des Buchs, hält sich doch im Westen hartnäckig die Erzählung, in der Jelzin-Ära sei die russische Demokratie auf einem guten Weg gewesen. Plokhy dagegen schreibt, Putin hätte später „das vorhandene politische System weidlich ausgenutzt“ und es „von der superpräsidentiellen auf die autokratische Stufe“ überführt. Bereits 1991 hat der damalige Sprecher Jelzins erklärt, „die Grenzen der Ukraine könnten nur in einer Union mit Russland garantiert werden“.

So wie hier zoomt der Historiker Plokhy, einer der international renommiertesten Kenner der ukrainisch-russischen Geschichte, an viele Phasen der jüngeren Zeitgeschichte heran. Er schildert im Wortlaut die Verhandlungen Gorbatschows mit westlichen Vertretern zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung, die heute gerne als Beleg herhalten müssen, es habe ein Versprechen des Westens gegeben, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehne.

Die Reue des Bill Clinton

Plokhy widmet sich ausführlich der deutschen Position in den Merkel-Jahren, damals habe man sich in Deutschland vor der Verantwortung gedrückt, sagt er. Während Bill Clinton heute seine Rolle während des Budapester Memorandums bereut, hat Merkel bislang keine Fehler in der Russlandpolitik eingestanden.

Die deutsche Debatte nach Beginn des Angriffskriegs – offene Briefe und Friedensdemonstrationen, die jegliche Konsequenz eines möglichen Friedens ausblenden – dürfte für Plokhy ohnehin irritierend sein. Seines Erachtens ist der Ukrainekrieg „der erste große Krieg seit dem Sieg über den Nationalsozialismus, in dem es nur wenige Grautöne bezüglich seiner moralischen Dimensionen gibt. Es ist der erste ‚gute Krieg‘ seit dem globalen Konflikt 1939–1945, in dem von Anbeginn an feststeht, wer der Aggressor ist und wer das Opfer, wer der Schurke ist und wer der Held und auf wessen Seite man stehen möchte.“

Für deutsche Linke dürfte auch spannend sein, was Plokhy über das Asow-Regiment schreibt. In den Jahren zwischen 2014 und 2022 habe es seine „Verbindungen zu rechtsextremen Parteien und Ideologien“ gekappt, sei aber „weiterhin ein Hauptziel russischer Propagandaattacken“ gewesen. Wer also glaubt, Asow sei noch heute durchsetzt von Neonazis, der lese seine Schilderungen.

Die historischen Bücher Plokhys (zuvor „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“ und „Die Frontlinie“) geben einem ein komplettes Bild des russisch-ukrainischen Verhältnisses in Vergangenheit und Gegenwart. In „Der Angriff“ blickt der in Saporischschja aufgewachsene Plokhy, der seit Langem in Nordamerika lehrt, auch auf die veränderte geopolitische Großwetterlage – die Rückkehr einer bipolaren Welt der Supermächte zeichnet sich da ab, nur steht nun China mit Juniorpartner Russland dem Westen gegenüber.

Welche große Gefahr China darstellt, illustriert Plokhy mit den Worten des US-Außenministers Antony Blinken: China sei „das einzige Land, das sowohl die Absicht hat, die internationale Ordnung neu zu gestalten, als auch in zunehmendem Maße über die dafür notwendige wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt“, erklärte Blinken im Mai 2022.

Ein ziemlich geeinter Westen

Und weiter: „Pekings Vision würde uns von den universellen Werten abbringen, die in den letzten 75 Jahren einen Großteil des weltweiten Fortschritts ermöglicht haben.“ Gemäß Plokhy gibt es in dieser neuen globalen Konstellation weitere Antagonismen: Hier die zukunftsorientierte Ukraine, dort das vergangenheitsorientierte Russland. Hier Demokratie, da Autoritarismus. Hier das System von Nationalstaaten, da der ungebrochene Glaube an ein Imperium. Auch Plokhy kommt – wenig überraschend – zu dem Ergebnis, dass der Westen dabei geeint wie lange nicht dasteht.

Und die russische Perspektive? Für den Putin-Staat waren die Ukraine und ihr Beharren auf Selbstbestimmung spätestens seit 2004 eine Bedrohung. Über die Maidan-Revolution 2004 sagte der russische Politikberater Gleb Pawlowski, der damals dem Kreml nahestand, einmal: „Sie war unser 9/11.“ Sätze wie diese zeigen eindrücklich, wie die russische Sicht ist und wie die Verschwörungserzählungen des Kreml zustande kommen. Aus Furcht und Verzweiflung baute Russland zu der Zeit Jugendorganisationen wie Naschi („Die Unseren“) auf, die pro Janukowytsch und somit prorussisch waren.

Serhii Plokhy: „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 300 Seiten, 26 Euro

Es gibt darüber hinaus spannende Exkurse in „Der Angriff“. Man lernt etwas über die goldenen 1920er Jahre in Charkiw und das Vorkriegs-Charkiw als Kulturstadt. Man liest über die Ukraine während und nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges – ausführlicher bekommt man dies in seinem Überblickswerk „Das Tor Europas“. Und, um positiv zu schließen, man erfährt auch hier etwas über den unbändigen Optimismus und den Humor der Ukrainer, der selbst in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche verbreitet zu sein scheint.

Nachdem der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill den Krieg vergangenes Jahr gutgeheißen hatte, reagierte der ukrainische Bischof Lonhyn mit einer sarkastischen Predigt. „Eure Heiligkeit, wir danken Euch für Euren Segen. Dafür, dass Menschen sterben und Blut vergossen wird. Dafür, dass unsere Klöster und Kirchen bombardiert werden. Dafür, dass unsere Mönche, unsere Priester weiterhin getötet werden. Wir danken Euch, Eure Heiligkeit, für Eure große Segnung des Blutvergießens.“ Darauf, dass die Ukrainer irgendwann gebrochen werden, auch das lernt man bei Plokhy, kann der Kreml lange warten.

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