Zehn Jahre „Euro-Maidan“ in der Ukraine: Stilles Gedenken bei Minusgraden

In Kyjiw wird an die Protestbewegung Euro-Maidan erinnert. Dabei starben über 100 Menschen. Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen.

Ein Mann kniet vor Tafeln mit Fotos und ukrainischen Fahnen

Stilles Gedenken an die über 100 Opfer, die im Februar 2014 in Kyjiw getötet wurden Foto: Thomas Peter/reuters

KYJIW taz | Ein Glockenschlag durchbricht die Ruhe am Dienstagvormittag. Vor der kleinen Holzkapelle am Hang über dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz spricht ein orthodoxer Geistlicher ein Gebet. Eine Sängerin mit Blumenkranz im Haar singt die Nationalhymne.

Die Zeremonie soll an den Beginn der Massenproteste gegen den früheren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vor zehn Jahren erinnern – und der Opfer gedenken. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt stecken die Teil­neh­me­r:in­nen ihre Hände tiefer in die Taschen. Die Erinnerung steht deutlich unter dem Eindruck des andauernden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Auf dem Maidan Nesalesch­nosti, dem Platz der Unabhängigkeit, im Zentrum Kyjiws hatten am 21. November 2013 die Proteste, die die Ukrai­ne­r:in­nen als Revolution der Würde bezeichnen, begonnen. Auslöser war die Weigerung Janukowitschs, ein lange verhandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben und die Entscheidung, sich stattdessen an Russland zu binden.

Die zunächst überwiegend jungen De­mons­tran­t:in­nen protestierten friedlich. Nachdem die Polizei versuchte, den Platz gewaltsam zu räumen, solidarisierten sich immer mehr Menschen. Zeitweise protestierten Hunderttausende.

Tod durch Schüsse

Rasch rückte der Protest gegen Janukowitschs korrupte Regierung in den Vordergrund. Nachdem auch drakonische Gesetze, die die bürgerlichen Freiheitsrechte einschränkten, die Protestwelle nicht brachen, setzte Janukowitsch auf mehr Gewalt. Im Februar 2014 wurden mehr als 100 Menschen durch Schüsse getötet, auch 17 Polizisten. Janukowitsch wurde schließlich vom Parlament des Amtes enthoben und floh nach Russland.

Am Dienstag kommen ungefähr hundert Menschen im Verlauf von anderthalb Stunden, hören zu, einige legen Blumen an einem Holzkreuz ab. Andere stehen still vor einem Gestell neben der Kapelle, auf dem kleine Porträts der Todesopfer auf Steintafeln angebracht sind. Davor flackern Grablichter. Einige haben Tränen in den Augen. Ein Teilnehmer erzählt, dass in den Jahren vor 2022 mehr Menschen gekommen seien. Viele frühere Maidan-Aktivisten seien jetzt an der Front.

Die Historikerin Dariia Kondratyuk ist gekommen, um auf eine neue Ausstellung des Maidan-Museums aufmerksam zu machen. Darin werden Exponate aus der Zeit der Proteste gezeigt. Sie selbst sei damals erst 16 Jahre alt gewesen und habe in einer Kleinstadt weiter westlich zwischen Kyjiw und Lwiw Spenden für die Protestierenden gesammelt. Der Tag bedeute ihr viel. „In unserer Geschichte gibt es viele Tragödien und selten konnten wir frei entscheiden. Aber auf dem Maidan haben wir uns entschieden, wie wir leben wollen.“ Allerdings sei dieser Weg noch nicht beendet.

Tafeln für die Toten

Die Straße, die vom Maidan den Hügel hinauf zum Regierungsviertel führt, wurde nach der Revolution in „Allee der himmlischen Hundertschaft“ umbenannt. Sie ist für den Autoverkehr gesperrt. Beiderseits der Straße sind ebenfalls Tafeln der Getöteten angebracht. Auch später am Tag legen Menschen dort immer wieder Blumen ab. Eine Gruppe von Frauen, die aus dem von russischen Truppen besetzten Teil des südukrainischen Gebietes Cherson geflohen ist, singt ein Lied.

Die Aufarbeitung der Gewalt durch die ukrainische Justiz zieht sich seit Jahren hin und ist noch immer nicht abgeschlossen. Im Oktober 2023 fällte ein ukrainisches Gericht erstmals ein Urteil gegen damals beteiligte Polizisten. Ein stellvertretender Regimentschef der Sondereinheit „Berkut“ (Steinadler) wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Polizisten sollen demnach für 15 Jahre ins Gefängnis. Die drei Männer wurden in Abwesenheit verurteilt, weil sie 2019 im Zuge eines Gefangenenaustauschs an die prorussischen Separatisten in der Ukraine übergeben worden waren und für die Justiz nicht mehr greifbar sind.

Am Dienstagmorgen ist die Straße auch für Fußgänger abgesperrt. Posten in Armeeuniform stoppen die Besucher auf halbem Weg. Die Sicherheitsvorkehrungen haben einen Grund: Der ukrainische Präsident Wolodimyir Selenski, seine Frau Olena und die Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, sind gekommen, um Blumen abzulegen und der Opfer zu gedenken. Selenski sagt, die Protestteilnehmer hätten damals den „ersten Sieg im heutigen Krieg“ gegen Russland errungen.

Unangekündigter Besuch

Zu einem unangekündigten Besuch war am Dienstag auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach Kyjiw gekommen. Auch er besuchte die Gedenkstätte und stellte der Ukraine weitere deutsche Militärhilfen im Wert von 1,3 Milliarden Euro in Aussicht. Er sei in der Ukraine, um Deutschlands „Solidarität und tiefe Verbundenheit und auch unsere Bewunderung für den mutigen, tapferen und verlustreichen Kampf“ auszudrücken. Die militärische Unterstützung werde dabei helfen, die russische Aggression zu bekämpfen“, sagte der Minister. Geliefert werden sollen nach Angaben von Pistorius weitere Flugabwehrraketensysteme vom Typ Iris-T SLM. Die Hauptstadt stand am Wochenende erneut unter massivem nächtlichem Drohnenbeschuss.

Auf eine mögliche Lieferung von hoch präzisen Taurus-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von über 500 Kilometern angesprochen, sagte der Verteidigungsminister: „Es gibt keine neuen Informationen zu Taurus.“ Die Ukraine fordert seit Längerem nachdrücklich die Lieferung dieser deutschen Marschflugkörper.

Für Pistorius war es die zweite Reise in die Ukraine seit seinem Amtsantritt im vergangenen Januar. Neben politischen Gesprächen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Rustem Umerow war auch Pistorius’ Besuch einer Ausbildungseinrichtung des ukrainischen Militärs geplant.

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