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Verfassungsrat in Chile beginntJetzt schreiben Rechte den Entwurf

Am Mittwoch nimmt der neue Verfassungsrat in Chile seine Arbeit auf, um die Magna Carta der Diktatur loszuwerden. Aber jetzt haben Rechte das Sagen.

An­hän­ge­r:in­nen der rechten Republikanischen Partei nach der Wahl zum Verfassungsrat Anfang Mai Foto: Esteban Felix/ap

SANTIAGO DE CHILE taz | Auf den ersten Blick scheinen die Chi­le­n:in­nen nicht zu wissen, was sie wollen. Erst protestieren sie 2019 monatelang gegen die soziale Ungleichheit und neoliberale Politik im Land, stimmen 2020 mehrheitlich für eine neue Verfassung, um die alte aus der Diktatur zu ersetzen, wählen 2021 einen Verfassungskonvent mit einer Mehrheit von Linken und sozialen Bewegungen und stimmen für einen linken Präsidenten.

Soziale Bewegungen und Indigene sind diesmal de facto von dem Prozess ausgeschlossen

Dann lehnen sie 2022 den Entwurf für eine neue Verfassung ab, der Vorbildcharakter weltweit gehabt hätte. Und als wäre das nicht genug, stimmen sie anschließend 2023 bei den Wahlen für einen Verfassungsrat, der einen neuen Entwurf ausarbeiten soll, mehrheitlich für eine rechtsextreme Partei. Was ist da los?

Von einem Pendel sprechen Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­r:in­nen in Chile, das mal nach links und mal nach rechts schwenkt. Die Wäh­le­r:in­nen­ können sich im Parteienspektrum von einem bis zum anderen Ende bewegen. Die Konstante ist, diejenigen abzuwählen, die gerade an der Regierung sind. Es ist der Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit, unabhängig davon, wer gerade regiert.

Dieses Verhalten hat sich im verfassunggebenden Prozess fortgesetzt, der durch die Protestbewegung auf der Straße ausgelöst, aber von den politischen Parteien in einen engen Rahmen gepresst wurde. Der soziale Aufstand von 2019 und 2020 und auch das politische Pendel sind Ausdruck einer politischen Krise, für die bis heute keine Lösung in Aussicht ist.

Das Korsett, das die Verfassung aus der Militärdiktatur der chilenischen Politik verpasste, führte außerdem dazu, dass auch Mitte-links-Regierungen nicht von dem neoliberalen Kurs abwichen, der während der Diktatur gewaltsam durchgesetzt wurde.

Keine reservierten Sitze mehr für Indigene

Die Ausarbeitung des neuen Entwurfs für eine neue chilenische Verfassung wird von denjenigen bestimmt werden, die eigentlich lieber das Grundgesetz aus der Pinochetdiktatur behalten würden. Mehr als die Hälfte der Sitze des Verfassungsrats, der am 7. Juni seine Arbeit aufnimmt, wird von Mitgliedern rechter Parteien besetzt sein.

Zweiundzwanzig der 51 Sitze von Mitgliedern der rechtsextremen Republikanischen Partei – einer von ihnen, Luis Silva, drückte seine Bewunderung für Pinochet aus, den er als „Staatsmann“ bezeichnete. Er spricht sich außerdem gegen das Recht auf Abtreibung aus und gegen eine öffentliche Rentenversicherung.

Die Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsrats entspricht komplett dem Gegenteil des vorangegangenen Verfassungskonvents. Beim ersten Anlauf für die Erarbeitung einer neuen Verfassung gab es den Versuch, die Repräsentationskrise der chilenischen Demokratie zu überwinden, indem denjenigen, die lange aus den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren, die Teilnahme ermöglicht wurde.

Es gab reservierte Sitze für Indigene, Geschlechterparität und die Möglichkeit, parteiunabhängige Wahllisten aufzustellen. Nur so war es möglich, dass soziale Bewegungen, Feministinnen und Um­welt­schüt­ze­r:in­nen den Entwurf mitschreiben konnten.

Ausgerechnet ihnen schieben Po­li­ti­ke­r:in­nen verschiedener Parteien jetzt die Verantwortung dafür zu, dass der Entwurf abgelehnt wurde, der soziale Rechte, Rechte der Natur, die Anerkennung von Sorgearbeit und Plurinationalität in der Verfassung verankert hätte. Laut dem amtierenden Präsidenten Gabriel Boric habe der Verfassungskonvent ein „Klima gegenseitiger Intoleranz und Konfrontation geschaffen, das in der Ablehnung des Vorschlags endete“. Das sagte er bei einer Rede vor wenigen Tagen.

Neuer Entwurf womöglich noch neoliberaler

Die zentralen Ak­teu­r:in­nen des ersten verfassunggebenden Prozesses werden jetzt systematisch ausgeschlossen. Nur politische Parteien durften Wahllisten aufstellen, was die Beteiligung sozialer Bewegungen verhinderte. Es waren keine Sitze für Indigene reserviert. Nur ein einziger Kandidat schaffte es über die indigene Wahlliste in den Verfassungsrat: der Mapuche Alihuen Antileo. Im ersten Verfassungskonvent gab es 17 Sitze für die 10 indigenen Völker Chiles.

Der Verfassungsrat wird auf der Grundlage des Entwurfs einer Ex­per­t:in­nen­kom­mis­si­on arbeiten. Diese Kommission wurde nicht gewählt, sondern von Parlamentsmitgliedern eingesetzt und besteht größtenteils aus Jurist:innen.

Der Entwurf der Ex­per­t:in­nen­kom­mis­si­on sieht im Gegensatz zum ersten Verfassungsentwurf keine reservierten Sitze für Indigene im Parlament vor. Auch die Aspekte, die die feministische Bewegung in die Verfassungsdebatte eingebracht hatte, wurden ignoriert. Die Anerkennung von Sorgearbeit findet keine Erwähnung im Entwurf, auch nicht die Geschlechterparität in staatlichen Institutionen. Während der vergangene Entwurf die Rechte der Natur garantierte, gibt es jetzt bisher lediglich eine Norm, die Umweltschutz erwähnt.

Rechtsextreme haben Vetorecht im Verfassungsrat

In dem Entwurf wird zwar das Prinzip des „Sozialstaats“ erwähnt, aber mit dem Zusatz, dass die Entwicklung sozialer Rechte „durch staatliche und private Institutionen gefördert“ wird. Manche sehen darin die Gefahr, dass die Existenz beispielsweise privater Renten- und Krankenversicherungen so verfassungsrechtlich legitimiert werden könnte.

Mit einer Dreifünftelmehrheit können die Verfassungsnormen der Ex­per­t:in­nen­kom­mis­si­on vom Verfassungsrat befürwortet, bearbeitet oder abgelehnt werden. Außerdem können neue Normen hinzugefügt werden. Da die Mitglieder der rechtsextremen Republikanischen Partei mehr als zwei Fünftel der Sitze haben, haben sie ein Vetorecht im Verfassungsrat.

Es ist möglich, dass der neue Verfassungsentwurf, der den Chi­le­n:in­nen am 17. Dezember zur Abstimmung vorgelegt werden wird, sich nicht stark von der aktuellen Verfassung unterscheiden wird – oder sogar noch stärker konservative Werte und neoliberale Ideologie beschützen wird. Diejenigen, die für einen Wandel kämpfen, könnten dann vor der Frage stehen: Was ist schlimmer, eine neoliberale Verfassung demokratisch zu legitimieren oder die Verfassung von Pinochet zu behalten?

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