Diversitätsbeauftragte im Museum: „Frauen nicht als Opfer darstellen“
Weiqi Wang ist Diversitätsbeauftragte in einem Hamburger Museum. Sie hat Kunstprojekte in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern realisiert.
wochentaz: Frau Wang, sind Sie Künstlerin oder Kuratorin?
Weiqi Wang: Das lässt sich gar nicht so streng trennen. Denn meine Kunstprojekte sind soziokulturell, oft politisch – und zielen auf Selbstermächtigung. Ich bringe Menschen im öffentlichen Raum zu bestimmten Themen und Aktivitäten zusammen, übe mit ihnen zivilgesellschaftliches Engagement und sensibilisiere sie für Diversität. Letzteres ist ja auch meine Aufgabe als Kuratorin für Outreach und Diversität am Hamburger „Museum am Rotherbaum. Kulturen und Künste der Welt“ (kurz MARKK – Anm. d. Red.). Unser Haus hat – wie alle ethnografischen Museen – eine besondere Verpflichtung, sich mit der Kolonialgeschichte von Institutionen und deren Sammlungen sowie mit der exotisierenden Darstellung vor allem nicht europäischer Menschen und Kulturen zu befassen.
Weiqi Wang wurde 1988 im chinesischen Shenyang geboren, machte Abitur und begann dort ein Kunststudium. Sie setzte es an der Muthesius Kunsthochschule Kiel fort, wo sie 2015 mit dem Bachelor in Raumstrategien/Szenografie abschloss. Von 2015 bis 2021 folgte ein postgraduales Masterstudium am Institut für Art in Context an der Berliner Universität der Künste. Hinzu kamen eigene künstlerisch-kollaborative Projekte im öffentlichen Raum. Von 2021 bis 2022 war sie Kunstvermittlerin im Leipziger Museum der bildenden Künste. Seit Oktober 2022 arbeitet Weiqi Wang im Zuge des 360 °-Fonds als Kuratorin für Diversität und Outreach am Hamburger Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt, kurz: MARKK. (ps)
Was genau tun Sie als Diversitätsbeauftragte des MARKK?
Ich begleite den Diversifizierungsprozess im Haus – und zwar in puncto Programm, Publikum und Personal. Ich möchte das Haus weiter für das Thema (Post-)Migrationsgesellschaften sensibilisieren und mit den entsprechenden Communitys zusammen arbeiten. Auch möchte ich Menschen, die noch nie hier waren, ins Haus einladen.
Und wie befördern Sie die Diversifizierung im Haus?
Oh, da gibt es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel bin ich bei allen Bewerbungsgesprächen anwesend und vertrete das Thema Vielfalt. Bei der Planung großer Veranstaltungen im Haus, an den ich teilnehme, kann ich von Anfang an mein Anliegen, Diversität und Outreach, mit einbringen. Außerdem haben wir mit der Besucher:innen- und der Nichtbesucher:innenforschung begonnen, um zu schauen: Wer kommt ständig ins MARKK, wen haben wir noch nicht erreicht? Auch im Besucher:innenverhalten finden sich Aspekte des großen Themas Diversität und Outreach.
Haben Sie persönlich schon neue Publikumssegmente erschlossen?
Ich hoffe es: Im Zuge der inzwischen nach Berlin weitergezogenen Ausstellung „Unbinding Bodies“ über die Praxis des Fußbindens bei chinesischen Frauen habe ich einen Gesprächsabend mit Chinesisch sprechenden Frauen aus Hamburg initiiert und angeleitet. Es ging um die Frage, wie wir chinesischen Frauen heute zu solchen Praktiken stehen. Ob wir immer noch gesellschaftliche Normen bezüglich der Füße wahrnehmen, die man Frauen schon im Kindesalter bandagierte, damit sie zierlich blieben. Und gibt es immer noch geistige Fesseln, die darauf abzielen, einer Norm zu entsprechen? Das reicht von Haarentfernung über Dresscodes bis zu Regeln, die festlegen, wie sich Frau* zu benehmen hat.
Der 360 °–Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes fördert die diversitätsorientierte Öffnung von Kulturinstituten durch die Finanzierung einer auf zwei Jahre befristeten Personalstelle sowie durch Projektmittel. Von 2018 bis 2025 förderte und fördert der Fonds 39 Kultureinrichtungen – 16 Museen, 13 Theater, acht Bibliotheken, eine Musikschule und ein Symphonieorchester – mit rund 17,3 Millionen Euro. (ps)
Wie haben Sie die Frauen gefunden?
Das ist eine lange Geschichte. Zuerst habe ich versucht, Vereine und Gruppen zu kontaktieren, die nicht vom chinesischen Staat finanziert werden. Das war recht mühsam. Irgendwann habe ich Kontakt zum chinesischen Akademikerverband der Uni Hamburg bekommen, wo sich einige Studierende für das Thema interessierten. Weitere Frauen habe ich über Social Media gefunden, andere haben sich persönlich angemeldet. So sind 22 Frauen zwischen 20 und über 60 Jahren zusammengekommen, auch von den Berufen her bunt gemischt.
Fanden die Frauen die Ausstellung ausgewogen? Das Leiden der bandagierten Chinesinnen, deren Füße oft lebenslang schmerzten, kommt darin kaum vor.
Die Rückmeldungen waren sehr unterschiedlich. Einige schätzen es, dass die Frauen nicht als Opfer dargestellt wurden. Andere fanden, dass die Geschichte der gebundenen Füße unzureichend dargestellt sei: Woher kommen solche Praktiken? Wie kam es, dass kleine Füße in einer patriarchalischen Gesellschaft als ästhetisch galten? Das ging ja so weit, dass chinesische Männer den watschelnden Gang im Alltag und die schwingenden Bewegungen beim Tanz schätzten, der durch die kleinen, verkrüppelten Füße der Frauen entstand. Bis heute gibt es übrigens in China schöne Damenschuhe nur bis Größe 39. Ab Größe 40 müssen Damenschuhe speziell angefertigt werden, wie zwei Frauen an jenem Abend erzählten. Das war auch mir neu.
Existiert die Praxis des Fußbindens noch?
Nein. Aber für viele in der Generation meiner Mutter und Großmutter ist das Thema noch präsent – und damit auch für die Nachkommen. Meine Großmutter zum Beispiel hatte kleine, aber keine deformierten Füße. Bei ihr wurde wohl mit Bandagieren begonnen, aber nur für kurze Zeit. Ich kann mich erinnern, als Kind beobachtet zu haben, dass sie abends ihre Füße massierte, weil sie schmerzten. Ich weiß aber nicht, ob es daran lag, dass ihre Füße in ihrer Kindheit gebunden waren.
Erzählen Sie von Ihren Wurzeln. Wie würden Sie Ihre Geburtsstadt Shenyang beschreiben?
Shenyang ist eine Industrie- und zugleich eine Kulturstadt in Nordost-China. Wichtigstes historisches Baudenkmal – und UNESCO-Weltkulturerbe – ist der Mukden-Palast aus dem 17. Jahrhundert. Erbaut wurde er in Shenyang unter dem Mandschu-Kaiser Nurhachi und seinem Sohn, den Begründern der Qing-Dynastie, der letzten des chinesischen Kaiserreichs. Der Mukden-Palast war letzte Residenz der Qing-Dynastie, bevor sie in die „Verbotene Stadt“ in Beijing wechselte.
Und woher stammt Ihre eigene Neigung zur Kultur?
Das hat ganz bestimmt mit dem Einfluss meines Elternhauses zu tun. Mein Vater war im Hauptberuf Landschaftsarchitekt. Sein großes Interesse galt auch der Malerei. Überall waren Zeichnungen und Gemälde, die mich als Kind stark beeindruckten. Von Anfang an gehörte künstlerisches Arbeiten zu meinem Alltag. So bin ich zur Kunst gekommen.
Wie wurde die Kunst zu Ihrem Beruf?
Nach dem Abitur wurde ich an der Jiangnan Universität in Wuxi in Südchina angenommen. Nach einem Semester wurde mir bewusst, dass es in der Welt noch eine größere Bühne gibt – besonders für Kunst und Design. Deshalb bin ich 2008 zum Studium nach Deutschland gekommen. Seither lebe und arbeite ich hier.
Wie sehen Ihre Kunstprojekte aus?
In Kiel zum Beispiel war ich 2015, als viele Menschen mit Fluchterfahrung ankamen, mit einer Tüte Ton und einem Brett vorm Bauch in der Innenstadt unterwegs. Ich habe Menschen angesprochen, und während wir uns unterhielten, habe ich aus Ton ein kleines Porträt der jeweiligen Person modelliert – als Dokumentation unseres Gesprächs. Während des halbjährigen Projekts bin ich fast 1.000 Menschen begegnet. Zum Abschluss habe ich alle Büsten auf dem Europaplatz in der Innenstadt aufgestellt, und diejenigen, die ihre Mail-Adresse hinterlassen hatten, eingeladen. Viele kamen, suchten „sich selbst“ und durften ihr Porträt dann mitnehmen. So ist dieser Platz zu einem Ort der Begegnung und des Dialogs für die Porträtierten und zufällig Vorbeikommenden geworden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Gab es keine Sprachbarrieren?
Ja, aber das hat die Kommunikation nicht verhindert. Redete jemand in einer Sprache, die ich nicht kannte, antwortete ich Chinesisch. Da ich die Person, mit der ich Kontakt aufgenommen hatte, gleichzeitig porträtierte, entspannte sich außerdem die Situation, weil die Porträtierten sich nicht verpflichtet fühlten, etwas zu sagen. Manchmal hielten wir einfach Blickkontakt, und es ging um die Zeit, in der wir zusammen saßen.
Und wie funktionieren Ihre „Selbstermächtigungs“-Projekte?
2021 wurde ich zum Beispiel nach Triebsees eingeladen, eine kleine Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist ein schöner Ort mit großer Abwanderung und vielen leeren, teils schon verfallenen Wohnhäusern. Nun fragen sich die verbliebenen Bewohner:innen, wie es mit der Infrastruktur weitergehen soll. Ich habe mir eine große Wiese gesucht, neben der die Ruine eines Lehmhauses stand. Dann habe ich Ziegelsteine der leeren und kaputten Häuser gesammelt, aus Wasser und Sand ein Bindemittel hergestellt und die Menschen aufgefordert, ein Version ihres Dorfs der Zukunft zu bauen. So entstanden Schule, Schwimmbad und so weiter. Ein Schulkind wünschte sich einen mittelalterlichen Turm, damit Tourist:innen kämen. Eine Familie wollte einen Bahnhof. Da kam jemand vorbei und erzählte, dass es früher wirklich einen Bahnhof gegeben habe. Auf genau solche Interaktion und Selbstermächtigung kommt es mir an: Ich möchte Menschen für ein gesellschaftlich relevantes Thema sensibilisieren, um sie anzuregen, gemeinsam etwas zu bewerkstelligen. Besonders deutlich wurde das in meinem Projekt der „Mitmach-Stadt“ 2018 in Shenyang.
Worum ging es da?
Meine Leitfrage war: Wie können wir gemeinsam über demokratische Stadtentwicklung nachdenken? Es war ein dreiwöchiges Projekt mit Vorträgen und Workshops. Für die Workshops haben wir auf dem Boden aus Ton einen Stadtteil von Shenyang nachgebaut. Dann haben alle Teilnehmenden – von Kindern bis zu Senior:innen – ein eigenes Haus gebaut und dort platziert. Auch ein Pflegeheim war darunter. Ich selbst habe eine Politikerin gespielt, die in Begleitung einer Investorenfirma daherkam und Dinge sagte wie: „Dieser Stadtteil muss abgerissen werden“ oder „Hier wird eine große Straße hindurch gebaut“. Dann mussten die Menschen überlegen: Was tun wir? Kann ein Haus umgesetzt werden – oder kann man gemeinsam den Abriss oder die ganze Planung verhindern? Anhand einer fiktiven Versuchsanordnung habe ich die Menschen angeregt, sich als Betroffene zu fühlen und Handlungsoptionen durchzuspielen. So imaginierte das Spiel die Realität.
Ist ein solch demokratieförderndes Projekt nicht riskant im heutigen China?
Es ist nötig. Und Kunst ist in China eine relative Grauzone. Vielleicht bin ich einfach noch nicht aufgefallen … Außerdem hatte ich das Projekt vorher beschrieben und angemeldet, habe mit dem Liu Hongdian Architekturmuseum, der Luxun Kunstakademie, der Architekturuniversität Shenyang und lokalen Behörden kooperiert, die mir verschiedene Orte anboten. Ursprünglich war ein öffentlicher Park genehmigt – aber dann mussten wir auf die Terrasse des TIEMAO Kulturzentrums umziehen. Nicht wegen unseres Themas, sondern weil sich die Stadt gerade als Green City bewarb. Deshalb richtete das staatliche Überprüfungsteam ein besonders Augenmerk auf diese Grünfläche. Während des Workshops selbst hatten wir, obwohl wir so kritisch arbeiteten, keine politischen Schwierigkeiten. Ein Gastredner kam sogar aus dem Stadtplanungsamt.
Trotz aller Schnittmengen: Ist Ihre Arbeit als Kuratorin so inspirierend wie solche Projekte?
Ja, denn in genau dieser Überschneidung liegt der Reiz. Ich habe mich so gefreut, dass ich mit einer Künstler:innenbiografie hier eingestellt wurde, um mein kreatives Potenzial im Arbeitsalltag zu erproben. Und es funktioniert ja: Zum Spielfest MARKK 2023 habe ich eine regierungsunabhängige Gruppe – die chinesische Gemeinde in Deutschland e. V. – eingeladen, einen chinesischen Platztanz aufzuführen.
Einen Platztanz?
Dieses Phänomen ist seit den 2000er Jahren in China präsent – und zugleich umstritten: Ältere Menschen, meist Frauen, treffen sich am Abend an unterschiedlichen Orten. Sie haben CD-Player, manchmal eine kleine Stereoanlage dabei, und tanzen zur Musik. Inzwischen gibt es das in ganz China. Auch jüngere Menschen nehmen mittlerweile mit eigenen Outfits und eigenem Tanzstil teil. Der Vorteil der Platztänzer:innen: Sie sind mobil, können so gut wie jeden Ort aufsuchen, wo Raum ist. Das verstehe ich durchaus als Selbstermächtigung, als eine Art Besetzung des öffentlichen Raums. Zumal Ältere – insbesondere Frauen – in China zu einer marginalisierten Gruppe gehören, deren Bedürfnis nach Selbstausdruck im Platztanz ausgelebt werden kann.
Und inwiefern ist der Platztanz umstritten?
Manche Menschen finden die Musik geschmacklos und zu laut. Andere meinen, dass die Platztänzer:innen zu viel öffentlichen Raum beanspruchen. Dabei handelt es sich dabei doch gesellschaftliche Teilhabe an öffentlichen Raum. Tatsächlich besetzten die Platztänzer:innen manchmal Teile eines öffentlichen Basketball- oder Tischtennisplatzes. Es kann aber auch unter einer Brücke sein, auf einem Parkplatz, an einer Straßenecke …
Wie finden diese Menschen zusammen? Kennen sie sich?
Nicht alle. Aber es hat fast einen Ansteckungseffekt. Sobald sie da sind und der Tanz beginnt, kommen immer mehr Leute dazu. Kinder, Junge, Alte – alle können mitmachen, ohne aufzufallen oder sich verdächtig zu machen. Ich nenne es „nicht-organisierte Selbst-Organisation“. Hier im MARKK haben dann, wie erwähnt, Erwachsene und Kinder gemeinsam im Gewölbesaal getanzt.
Außerdem haben Sie ein antirassistisches Projekt für Schüler:innen initiiert.
Ja, ich habe gerade mit einen Workshop für Schulklassen zum rassismuskritischen Umgang mit Schulbüchern begonnen. Denn selbst in Mathematikbüchern lassen sich rassistische Inhalte in Abbildungen und Formulierungen finden. Ich möchte den Blick der Schüler:innen schärfen, ihnen eigene Erfahrungen als Werkzeug mitgeben, um sie zur selbstständigen Auseinandersetzung mit rassistischen Inhalten zu befähigen. Das Angebot gilt für Schüler:innen ab der 7. Klasse.
Haben Sie dieses Programm erfunden?
Nein. Ich gehe davon aus, dass sich Bildungsinstitutionen aller Sparten intensiv mit dem Thema befassen.
Ihre Stelle ist auf zwei Jahre befristet. Was kann man in dieser Zeit bewegen?
Die Aufgabe, der Bedarf nach Diversifizierung bleibt, aber das hängt nicht von einer bestimmten Person ab. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Ein Etappensieg wäre schon der selbstverständliche Umgang mit dem Thema Diversität. Aber schon jetzt nehme ich wahr, dass viele Mitarbeitende hier im Haus für das Thema sensibilisiert und mit ihm vertraut sind. Das ist ein gutes Zeichen.
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