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Die WahrheitDer arme Löwe

Tierdokus zeigen die ganze brutale Natur der Natur. Bei den grausamen Kämpfen stellt sich stets die Frage: Auf welcher Seite stehen wir eigentlich?

J e öfter ich sie anklicke, desto mehr von diesen spektakulären Wildtier-Reels werden mir auf Social Media angezeigt: Hyäne gegen Leopard, Krokodil gegen Jaguar, Löwe gegen Büffel. Ich schau denen dann gern beim Raufen zu und finde spannend, wer gewinnt.

Allerdings habe ich dabei immer so einen merkwürdigen Bias am Laufen, denn mir ist aufgefallen, dass ich es jedes Mal emotionslos hinnehme, wenn ein Löwe irgendein Huftier komplett zur Sau macht. Nimmt jedoch ausnahmsweise ein Büffel einen Löwen auf die Hörner, und schmeißt ihn durch die Luft, sodass der sich krass wehtut, reagiere ich so, als ob ein Kind von einem konservativen Feuilletonisten mit dem Porsche in der Spielstraße angefahren wurde.

Jetzt kommen auch noch ein zweiter und ein dritter Büffel hinzu und wirbeln den Löwen mehrmals übel durch die Luft. Beim Anblick der geschurigelten Riesenmieze jaule ich innerlich auf: Buhu, der arme Löwe!

Wirklich fair ist das nicht. Was, verdammte Axt, ist eigentlich los mit dir, Hans Ulrich, frage ich mich hinterher oft; ist etwa das Leben dieses Büffels nicht genau so viel wert wie das eines Löwen? Und wer hat hier schließlich wen angegriffen? Warum hältst du immer zu den Fleischfressern, anstatt zu den Veganern, die sich nur verteidigen? Wie so ein unverbesserlicher Putin-Troll. Was bin ich bloß für ein toxisches Teufelchen: Bormann, Lindemann, Hannemann – wer schon meint, ein „Mann“ im Namen tragen zu müssen, kann nur ein pathologisches Verhältnis zu seiner Männlichkeit haben.

Immerhin reflektiere ich mich noch dabei, denn mit etwas Abstand bin ich von meinem Charakter durchaus enttäuscht. Ich fürchte sogar, wäre ich einer jener Safarigäste, die das jeweilige Filmchen gemacht haben, würde ich wahrscheinlich dem Guide die Flinte entreißen, vom Jeep springen und brüllend auf die Büffelherde zurennen. Piff, paff, und mit etwas ballistischer Hilfe ist der König der Tiere im Nu zurück auf seinem rechtmäßigen Thron.

Natürlich ist es unzulässig, in den Verlauf der Natur einzugreifen. Doch sobald es um Menschen geht, ist die Angelegenheit viel komplexer. Katz und Maus, Räuber und Gendarm – diese simplen Modelle werden dem Individuum nicht gerecht. Kein Wunder, dass ich bei Krimis stets zu den Verbrechern halte. Denn mein natürlicher Gerechtigkeitssinn reagiert ­allergisch auf die Vorverurteilung durch die öffentliche Meinung, und ich drücke ihnen vor dem Bildschirm die Daumen, dass sie nicht erwischt werden.

Nicht selten ist der Mörder, Betrüger oder Dieb die einzig sympathische Figur im Film oder in der Serie, mit der man mitzittert, deren Motive man billigt und der man ein gutes Ende wünscht. Er reagiert halt auf die Umstände; eine geizige und grausame Gesellschaft, die ihn nicht per se mit einer monatlichen Leibrente ausstattet, zwingt ihn dazu, sich anderweitig schadlos zu halten. Also doch ein bisschen wie ein Löwe.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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