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Kreuzberger „MyFest“ abgesagtNüchtern in den Mai

Jonas Wahmkow
Kommentar von Jonas Wahmkow

Auch in diesem Jahr findet das Straßenfest nicht statt. Der Bezirk habe die Vorbereitung bewusst verschleppt, kritisieren die Veranstalter:innen.

Opfer der eigenen Beliebtheit? Nachdem 2018 Zehntausende das Fest besuchten, wurde es verkleinert Foto: dpa

E s ist ein harter Schlag für alle, die den Kampftag der Ar­bei­te­r:in­nen­be­we­gung am liebsten mit Open-Air-Konzerten, Köfte und einem öffentlichen Besäufnis zelebrieren: Das Kreuzberger MyFest fällt auch dieses Jahr wieder aus. Während die letzten drei Jahre das Straßenfest aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste, scheitert es in diesem Jahr an einem Streit zwischen Bezirk und Veranstalter:innen.

Halis Sönmez, Vorsitzender des MyFest e. V., gab am Dienstag in einem offenem Brief die endgültige Absage bekannt. Darin erhob Sönmez schwere Vorwürfe gegen Kreuzbergs Bürgermeisterin Clara Hermann (Grüne). Der Bezirk hätte den Verein unter dem Vorwand rechtlicher Bedenken die Unterstützung verwehrt und die Zusage für die erforderlichen finanziellen Mittel verweigert.

„Wir sehen uns bewusst hingehalten, bis zu dem Zeitpunkt, an dem faktisch das MyFest nicht weiter vorbereitbar“, heißt es in den fünfseitigen Schreiben, das der taz vorliegt. Sönmez wirft dem Bezirksamt vor, „vollständig unengagiert und unprofessionell“ zu handeln.

Das Bezirksamt kontert ebenfalls am Dienstag mit einer Pressemitteilung. Das MyFest finde nicht statt, weil es anders als die Demonstrationen und Kundgebungen an dem Tag keine politische Versammlung ist, sondern eine kulturelle Veranstaltung, die deutlich aufwendigere Anträge mit langem Vorlauf benötigt – unter anderem bräuchte es ein Sicherheitskonzept mit Rettungswegen. Diese wurden allerdings laut Bezirksamt nie gestellt; und staatliche Zuschüsse könnten erst nach Eingang entsprechender Anträge bewilligt werden.

Kreuzberg nur noch durchschnittlich-spießiger Bezirk

Sönmez ist verwundert über die Begründung des Bezirks – immerhin sei das MyFest 2020 bereits in der selben Form genehmigt worden, bis die Pandemie ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Ob das MyFest eine politische Veranstaltung sei, entscheide schließlich die Versammlungsbehörde und nicht der Bezirk. Informelle Zusagen hätte es in der Vergangenheit immer gegeben. Heute seien die Rahmenbedingungen die gleichen, geändert hätte sich nur Kreuzbergs Bürgermeisterin.

Sönmez Verdacht, der Bezirk habe einfach keine Lust mehr auf das Straßenfest, klingt nicht ganz unbegründet. Zuletzt pilgerten 2019 zehntausende Feierwütige nach Kreuzberg, um sich an kostenloser Musik und Späti-Bier zu erfreuen. Angesicht vollgepinkelter Hauseingänge und gröhlender Jugendlicher, stieß das MyFest bei An­woh­ne­r:in­nen zunehmend auf Widerstand: Schon 2019 wurde das Fest deutlich verkleinert. In einer Umfrage sprachen sich weiterhin 60 Prozent für das MyFest in verkleinerter Form aus.

Wirft man einen Blick auf die Genese des MyFestes, scheinen manche An­woh­ne­r:in­nen zu vergessen, dass betrunkene Jugendliche lediglich das kleinere Übel waren: Das Straßenfest wurde 2003 ins Leben gerufen, um die jährlichen Mai-Krawalle zu befrieden. Das Konzept funktionierte, die Revolutionäre 1.-Mai-Demo wurde über die Jahre immer zahmer. Mit dem vorläufigen Ende des MyFestes scheint selbst in Kreuzberg die kleinbürgerliche Spießigkeit gesiegt zu haben – kein Köfte, keine Musik, keine Krawalle.

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Jonas Wahmkow
Redakteur für Arbeit und Soziales im Berlin Ressort.
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