piwik no script img

Atomangst in den 80ernAls die Wolke kam

Atomraketen und Tschernobyl verdüsterten die 80er Jahre. Mit den Büchern Gudrun Pausewangs kam die Apokalypse ins Kinderzimmer.

Der Protest gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf war generationsübergreifend Foto: Ann-Christine Jansson

Um die Spielplätze flatterte Absperrband, aber draußen wollte ohnehin niemand mehr sein. Durch die Tagesschau schwirrten Bilder von Menschen mit Geigerzählern und Begriffe wie Becquerel und Millisievert. Dem Wetterbericht wurde vermutlich selten mit so dermaßen großer Anspannung gelauscht wie in den Tagen nach Tschernobyl – Angst vor Wind, Angst vor Regen und die Panik vor der radioaktiven Wolke.

„Ohohoho Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill. He, he, stoppt die AKWs“, sang Wolf Maahn. Im Radio spielten sie den Song nach dem Super-GAU rauf und runter. In einer Strophe geht es um all die Kinder, die nachts weinen, wegen der Furcht, „jetzt verstrahlt“ zu sein. Was Strahlenkrankheit bedeutet, das hatten sie durch die drastischen Schilderungen des körperlichen Zerfalls und Sterbens der kindlichen Romanfiguren in „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983) von Gudrun Pausewang gelernt.

Dieser Jugendroman und der ebenfalls von ihr stammende „Die Wolke“ (1987) haben sich ins Gedächtnis ganzer Generationen von Schü­le­r:in­nen eingeschrieben. Sätze wie „Morgen wirst du sie auch sehen können, die Gehäuteten und Haarlosen, sie werden ganz Schewenborn füllen“ vergisst man nicht. Pausewangs Bücher brachten die Apokalypse ins Kinderzimmer. Erst einmal aber brachte Pausewang die Atomkatastrophe literarisch nach Westdeutschland, genauer gesagt, nach Hessen. Schewenborn ist der Name einer fiktiven Kleinstadt in der Nähe von Fulda, wo eine Atombombe explodiert. Danach sieht Hessen aus wie Hiroshima 1945.

Bei Pausewangs „Die Wolke“, die im Jahr nach Tschernobyl erschien, ereignet sich der fiktive Reaktorunfall im AKW Grafenrheinfeld. Ausgerechnet in Bayern, dem Land, das Franz Josef Strauß regiert, der Apologet der Atomenergie. Gut 100 Kilometer entfernt, im hessischen Schlitz, beginnt die Fluchtodyssee der 14-jährigen Janna-Berta und ihres kleinen Bruders Uli. Denn ihre Eltern sind auf einem Kurztrip nach Schweinfurt, ganz in der Nähe des Reaktors. Kinder, die sich allein durchschlagen müssen, das ist ein wiederkehrendes Motiv bei Pausewang.

Atomangst und Zweiter Weltkrieg

Wie in jedem Katastrophenroman steigert sich der Horror. Die radioaktive Wolke, vor der die Be­woh­ne­r:in­nen fliehen, nähert sich rasant. Noch schneller bröckelt der Firnis der Zivilisation. Auf der Flucht ist sich jeder selbst der Nächste, die Autos sind zu voll gepackt, um Passagiere aufzunehmen. Uli wird von einem Wagen überfahren und stirbt. Der Autofahrer rast weiter. Die Spaltung der Gesellschaft in Davongekommene und Opfer zieht sich durch den Roman, „Hibakusha“ werden die Strahlenkranken in der „Wolke“ genannt, so wie in Japan die Überlebenden der Atombombe. Im „Schewenborn“-Roman vollzieht sich der Bruch der Zivilisation, wenn Bewohner kriegsversehrte Kinder ermorden. Ein Vater tötet sein missgebildetes Baby und sagt: „Was ist wohl barmherziger, so oder so?“

Die Komparatistin Jenny Willner hat sich in ihrem Aufsatz „Die letzten Zombies von Schewenborn“ mit dem Roman befasst. Sie zeigt, dass die atomare Katastrophe hier indirekt auf den Zweiten Weltkrieg verweist, die NS-Vernichtungspolitik aber nicht erwähnt wird – im Unterschied zu anderen Büchern Pausewangs, die ihr Schaffen unter das Credo „Nie wieder Nationalsozialismus“ stellte. Der Horror der Beschreibungen werde in diesem Buch auch dadurch überdeterminiert, dass den dystopischen Zukunftsschilderungen Elemente einer tabuisierten, mit Schuld und Scham besetzten Vergangenheit beigemengt sind, meint Willner.

Angst kann rational sein, aber auch lähmen

Pausewang wollte aufklären und Kindern Mut machen, das schreibt sie selbst im Nachwort, was angesichts der Brutalität des Romans irritiert. „Mut zur Angst“ lautet eine Formel des Philosophen Günther Anders, der 1956 in seiner Zeit­diagnose „Die Antiquiertheit des Menschen“ mit Blick auf die Atombombe von Apokalypseblindheit sprach. „I want you to panic“, schmetterte Greta Thunberg 2019 dem Publikum beim Weltwirtschaftsforum entgegen. Angst ist durchaus eine rationale Reaktion auf die Klimakatastrophe, auf Reaktorunfälle und auf die Atombombe. Angst kann zu politischem Handeln bewegen. Darauf setzt heute die Klimabewegung wie die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung der 1980er.

Pausewangs Bücher passten zum Lebensgefühl dieser Zeit, der Angst vor Krieg und Atomkraft. 1981 gingen Hunderttausende auf die Straße gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen das AKW Brokdorf. Thunberg wurde von Wirtschaftsliberalen und Konservativen „Klimahysterie“ vorgeworfen, Pausewang damals von Unionspolitikern und der Atomlobby Angstmacherei. Trotzdem: Der überbordende Horror der „Letzten Kinder von Schewenborn“ hätte nicht in die Kinderzimmer von 12-Jährigen einziehen müssen. Angst kann auch lähmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Nur eine Anmerkung zur gedruckten Version des Artikels. Dort wird geschrieben, dass die Filmmusik zu "When the wind blows" von David Bowie stammt. Der Score wurde von Roger Waters geschrieben und von seiner Band The Bleeding Hearts eingespielt. David Bowie singt ein Lied.



    Ach ja, der Film ist weiterhin sehenswert, da er die Naivität vieler Menschen zum Thema hat.

  • Vielleicht lag es daran, dass ich erst Anfang der 90er soweit war, die beiden Bücher in der Schule zu lesen. Doch ich fand die Bücher zwar eindrucksvoll aber keineswegs lähmend.



    Eventuell waren sie nach dem Abklingen der realen Atomangst aber auch schlicht zu drastisch, um von den später geborenen noch als realitätsbezogen wahrgenommen zu werden.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Ich beobachte seit langem, wie die Worte "Angst" und "Furcht" vermischt und unklar gebraucht werden. Wortgebrauch mit trübem Begriffsverständnis kann auch einiges zum Aufkommen unbehaglicher Gestimmtheit beitragen. Hier hülfe gründlicheres Sortieren. Klingt erst mal rationalistisch, kann aber helfen, wenn man sich darauf einlassen mag, dass dem ruhigen Nachdenken eine ordnende Wirkung auf seelische Regungen zukommen kann.