Deutsches Gesundheitssystem: Schlecht behandelt
Menschen ohne Krankenversicherung werden nur im Notfall versorgt. Obdachlose EU-Bürger wie Matei Baicu erleben ein krank machendes System.
I n einem fast leeren Wartezimmer, zwischen einem Schaukelpferd und einem Ständer mit Broschüren, sitzt Matei Baicu auf einem Stuhl. Von einer Erkältung Anfang Dezember hat er sich gut erholt. Das ist für jemanden wie Baicu nicht selbstverständlich – denn ein normaler Arztbesuch kam für den 30-jährigen Rumänen nicht in Frage. Wenige Wochen, nachdem er im vergangenen Sommer seinen Job als Bedienung in einer Eisdiele verloren hatte, meldete seine Krankenkasse ihn ab. Also ging er mit starkem Husten zum Münchner Hauptbahnhof, wo regelmäßig der Behandlungsbus von open.med parkt: Seit über 17 Jahren versorgt die Münchner Anlaufstelle Menschen, die keine Krankenversicherung und damit nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung haben.
Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. In Deutschland besteht seit 2009 eine Krankenversicherungspflicht, egal ob gesetzlich oder privat. Und doch fallen immer wieder Menschen durchs Raster. Sie bekommen dann zwar eine Versorgung im Notfall – etwa nach einem Unfall oder wenn eine Schwangere ein Kind gebärt. Doch mehr eben auch nicht. Mit anderen Worten: Baicus Erkältung war noch nicht schlimm genug für eine reguläre Versorgung.
Die Gründe, warum Menschen nicht krankenversichert sind, sind vielseitig. Sie hängen, wie in Baicus Fall, oft mit dem Aufenthaltsstatus und mit wirtschaftlichen Notlagen zusammen. Baicu heißt eigentlich anders. Er möchte anonym bleiben, aber seine Geschichte dennoch erzählen – weil er eben kein Einzelfall ist.
Open.med hat neben dem Behandlungsbus am Hauptbahnhof auch noch Räume in der Dachauer Straße 161, unweit des Olympiaparks. „Wenn der Arztbesuch zum Anrennen gegen eine Wand wird“, steht dort auf einem Plakat am Eingang. Baicu trägt Jogginghose, zwischen seinen Beinen hält er einen großen Rollkoffer und einen Rucksack. In den Taschen sind seine wichtigsten Besitztümer. Die trägt er immer bei sich. Ein festes Zuhause hat er nicht.
Das Schutzprinzip In Deutschland gibt es seit 2009 eine gesetzliche Versicherungspflicht – entweder in einer gesetzlichen oder in einer privaten Krankenversicherung. Bei Arbeitslosigkeit übernimmt das Jobcenter die Beiträge. Wer keine Versicherung abschließt, muss Beiträge bis zu einer bestimmten Verjährungsfrist nachzahlen, wenn er oder sie doch wieder zurück ins System will – man häuft also Schulden an, die einen Wiedereinstieg im Zweifel erschweren.
Die Ausnahmen Wer keinen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland hat oder keine gültigen Papiere, wird im Notfall grundsätzlich versorgt. Die Kosten für die Behandlung können die Krankenhäuser bei den Sozialämtern geltend machen. Haben die Patient*innen womöglich keinen gültigen Aufenthaltstitel, sind die Sozialämter nicht dazu verpflichtet, die Menschen bei der Ausländerbehörde zu melden. (akl)
Mit dem Versprechen auf Arbeit hat Matei Baicu vor anderthalb Jahren Rumänien verlassen. Er ging nach Hamburg, um in der Fleischindustrie zu arbeiten. „Ich hielt es dort nicht aus“, sagt er. Baicu wurde krank. Nach zwei Wochen kündigte er. Ein Bekannter empfahl ihm, nach München zu gehen. Ohne Dach über dem Kopf kam der Rumäne in der Bayernkaserne unter, einem Notschlafplatz für Obdachlose.
In München suchte er weiter nach Arbeit und versuchte, Deutsch zu lernen. Anfang 2022 habe er starke Magen-Darm-Beschwerden gehabt, erzählt Baicu. Er ging zum ersten Mal zum open.med-Behandlungsbus, der auch vor der Bayernkaserne Station macht. Dort traf er Monika Ilea, hauptamtliche Projektreferentin beim Verein Ärzte der Welt, der 2006 auch das Projekt open.med gegründet hatte. Sie ist auch beim Treffen mit der taz im Wartezimmer von open.med mit dabei – als Dolmetscherin, ohne ihre Hilfe käme kein Gespräch zustande.
Alle vier Jahre erhebt das Statistische Bundesamt den Versichertenstatus, doch die Statistik hat ein großes Dunkelfeld. 2019 zählte das Amt 65.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Der Verein Ärzte der Welt geht aber eher von mehreren Hunderttausend Menschen ohne Krankenversicherung aus. Viele der Betroffenen werden durch reguläre Statistiken nur schlecht erfasst. Sie haben keine gesicherten Aufenthaltstitel oder sind, wie geschätzt 262.600 Menschen in Deutschland, obdachlos.
Die Obdachlosenzahlen stammen aus dem Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Dezember 2022. Das Statistische Bundesamt ermittelt den Krankenversicherungsstatus wiederum durch Haushaltsabfragen. Aber über 80 Prozent der Patient*innen von Ärzte der Welt haben eben gar keinen festen Wohnsitz, wie aus dem Gesundheitsreport 2022 des Vereins hervorgeht.
Es gebe zwar Hilfen, aber viele Angebote, so der Verein, adressierten nur Teilgruppen: Selbstständige etwa, deren private Krankenversicherung zu teuer wurde und die sich plötzlich im sogenannten Notlagentarif für Privatversicherte wiederfinden. Für 100 bis 125 Euro im Monat ist die Versorgung dann deutlich reduziert. Akute Erkrankungen, Schmerzen und Schwangerschaft sind abgedeckt. Aber Patient*innen mit langanhaltenden, unheilbaren Erkrankungen wie Diabetes oder Rheuma bekommen kaum die Versorgung, die sie eigentlich benötigten.
Noch deutlich prekärer ist die Lage für Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. In einem Report 2018 äußerten sich die Vereinten Nationen besorgt mit Blick auf ausländische Staatsangehörige in Deutschland: Nehmen Menschen ohne Aufenthaltstitel medizinische Hilfe in Anspruch, müssen sie fürchten, abgeschoben zu werden.
Das Sozialamt ist verpflichtet, die Daten von Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Ausgenommen im Notfall, also einer akut lebensbedrohlichen Situation – dann müssen neben den Ärzten auch die Sozialbehörden die persönlichen Daten der Patient*innen geheim halten. Das scheitert in der Praxis aber oft daran, dass der Paragraf beim verantwortlichen Personal unzureichend bekannt ist.
Eine andere Gruppe bilden EU-Bürger*innen, die in Deutschland Arbeit suchen oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Über 40 Prozent macht diese Gruppe im Gesundheitsreport des Ministeriums 2022 aus; viele kommen aus Südosteuropa. Eigentlich sollten medizinisch notwendige Behandlungen von Unionsbürger*innen wie Baicu über die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) abgedeckt sein. Seit 2004 gilt sie in den meisten Ländern des europäischen Wirtschaftsraums sowie in der Schweiz. Wer in Deutschland gesetzlich versichert ist, muss – anders als in vielen anderen EU-Ländern – die EHIC auch nicht gesondert beantragen. Sie ist auf der Rückseite der regulären Karte aufgedruckt.
Doch viele EU-Bürger*innen sind unzureichend informiert und haben keinen Antrag auf eine Europäische Versichertenkarte gestellt. Oder sie wurde, wie im Fall von Baicu, nicht genehmigt.
Matei Baicu wuchs in einem Waisenhaus auf. Seit dem Kindesalter hat er einen Behinderungsgrad, Stufe drei, der geringste. Mit einem Behinderungsgrad sind in Rumänien alle krankenversichert, auch wenn sie keine Arbeit haben. Aber genau diese Form der Versicherung sei der Grund, warum Baicu keine europäische Versichertenkarte beantragen könne, erklärt Monika Ilea. „In Rumänien wäre er mit seinem Status versichert. Aber sobald er das Land verlässt, verliert er seinen Anspruch.“
Bei open.med behandelten die Ärzt*innen Matei Baicu auch ohne Krankenversicherung. In der Praxis und im Bus bietet der Verein eine basismedizinische Versorgung. Für aufwendigere Untersuchungen schicken sie Patient*innen zu Fachärzt*innen, die ehrenamtlich für den Verein arbeiten. Open.med hat sich über die Jahre ein Netzwerk in München aufgebaut. Bei einem Venenarzt erhielt Baicu nach Jahren der Schmerzen in Beinen und Rücken erstmals eine Diagnose: Krampfadern. Die Kosten für solche aufwändigen Untersuchungen übernimmt die Münchner Clearingstelle.
Diese Clearingstellen gibt es in einigen größeren Städten: Manche werden von Vereinen getragen, andere sind in kommunalen Gesundheitsämtern institutionalisiert. Im Dezember 2021, zum Tag der Gesundheitsversorgung, schlossen sich die Stellen als Bundesarbeitsgemeinschaft zusammen, um ihren Forderungen auf Bundesebene Gehör zu verschaffen. 10 der 16 Bundesländer sind mit mindestens einer Stelle repräsentiert.
Als einziges Bundesland hat es Thüringen bisher geschafft, eine flächendeckende Lösung auch für den ländlichen Raum zu schaffen. Der anonyme Krankenschein Thüringen (AKST) hat seit sechs Jahren seinen Sitz in Jena. Bewusst habe man sich für ein dezentrales System entschieden, sagt Carola Wlodarski, die Projektkoordinatorin. In Kooperation mit ausgewählten Arztpraxen im gesamten Bundesland werden anonyme Behandlungsscheine ausgestellt. Mit denen können Patient*innen die ärztlichen Praxen ihres Vertrauens wählen. Die Kosten übernimmt der Verein.
Ein Zehntel der Behandlungsscheine entfiel 2022 auf stationäre Behandlungen. Lieber präventiv in eine gute Grundversorgung investieren, als teure Notfälle stationär behandeln zu müssen: Das überzeugte in Thüringen. Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie finanziert das Projekt. Noch hangelt sich der Verein mit Anträgen beim Ministerium von Jahr zu Jahr. Sie hoffen auf eine längerfristige Finanzierung. „Der Traum wäre eine Institutionalisierung“, sagt die Projektkoordinatorin Wlodarski, also die Eingliederung in eine Gesundheitsbehörde.
Ohne die Hilfe des Anonymen Krankenscheins in Thüringen wäre Lutz Dielenberg vielleicht jetzt tot. Der Blick aus den Fenstern des katholischen Krankenhauses im Süden von Erfurt führt hinaus auf schneebedeckte Hügel. Lutz Dielenberg ist nicht sein echter Name, auch er möchte anonym bleiben. In einem Zweibettzimmer am Ende des Gangs liegt Dielenberg, das linke Bein ausgestreckt. „Alles kaputt, was kaputt zu machen geht: Schienbein, Wadenbein, Sprunggelenk“, sagt er.
Nur die Zehen ragen aus mehreren Gipsschichten heraus, noch orangegelb vom Desinfektionsmittel der Operation am Vortag. In einer Mischung aus Hüpfen und Humpeln kämpft sich Dielenberg stückweise den Gang zum Besucherbereich vor. Bis dahin reicht seine Kraft. Er zittert, als er sich hinsetzt. Seit fast einem Monat liegt der Mittfünfziger im Krankenhaus. Die letzte OP war bereits seine dritte.
Er erzählt von dem Unfall, der ihn ins Krankenhaus brachte. Er sei am Silvestermorgen mit dem Fahrrad am Erfurter Hauptbahnhof unterwegs gewesen. Als er absteigen wollte, erzählt er, habe er den Fuß auf die Straße gesetzt und sei plötzlich zur Seite weggekippt. Dann hörte er es noch knacken im Bein. Hätte Dielenberg noch laufen können, wäre er nach Hause gegangen. Er hat keine Krankenversicherung. Aber so kommt er in die Notaufnahme.
Seine Situation, sagt Dielenberg geradeheraus, sei selbst verschuldet. Vor etwa 20 Jahren besuchte er das letzte Mal eine Behörde. Seitdem ist er abgetaucht. Er bezog keine Sozialleistungen mehr und war seitdem nicht mehr versichert. Sein Personalausweis ist schon lange abgelaufen.
Ein mehrwöchiger stationärer Aufenthalt im Krankenhaus und komplizierte Operationen kosten Tausende Euro. Als er in der Notaufnahme erklärt, dass er nicht versichert ist, empfiehlt ihm das Krankenhaus den Anonymen Krankenschein Thüringen. „Das gab mir Ruhe“, sagt Dielenberg. Ein Glück, dass er an Silvester nicht nach Hause konnte: Zwei Tage später hätte es sich erledigt gehabt, erinnert sich Dielenberg an die Worte des Arztes. „Fuß weg – oder ganz tot.“
In den letzten Jahren begegnete Lutz Dielenberg Krankheiten alleine. Eines Morgens im Jahr 2016 wachte er auf, sein rechter Arm und sein rechtes Bein waren gelähmt. Er vermutet einen Schlaganfall. Statt zum Arzt zu gehen, recherchierte Dielenberg im Internet und erkämpfte sich mit Kniebeugen am Kühlschrank und Gehübungen seine Bewegungsfreiheit zurück, sagt er. Nach zwei Monaten besserte sich seine Situation. Unter der Oberlippe und dem weißen Bart fehlen mittlerweile auch einige Zähne. „Die sind einfach rausgefallen, irgendwann“, sagt er. Es habe nicht mal wehgetan.
Dielenbergs Lebenslauf ist ein Beispiel dafür, wie schnell man durch die Maschen des Gesundheitssystems fallen kann. Der gelernte Baumaschinist und Tischler hatte Schulden angehäuft, irgendwann lief ein Haftbefehl gegen ihn, in den 90er Jahren sei er einige Zeit im Gefängnis gewesen, sagt er. Danach fand er keine Arbeit mehr, kam dann schließlich doch bei einer Leiharbeitsfirma unter.
Dann sei er aber immer wieder krank geworden, schließlich landete er beim Jobcenter. Immer wieder hätte das Arbeitsamt ihm unpassende Jobangebote geschickt. Dann kam Hartz IV. „Die wollten alles von einem haben. Fehlte nur noch eine Stuhlprobe“, sagt er. Dielenberg hatte die Schnauze voll. Also ging er zu keinem Amt mehr. Er wohnt bis heute bei seiner Lebensgefährtin. Die Angst vor Ämtern blieb.
Der AKST hilft Dielenberg nach dem Fahrradunfall zu Beginn seines Klinikaufenthalts, die Formulare für seinen Personalausweis, für die Krankenversicherung und für das Bürgergeld auszufüllen. Dadurch ist Dielenberg auch rückwirkend versichert, und der Verein kann das ausgelegte Geld für seine Behandlung zurückfordern. Vor wenigen Tagen begann Dielenbergs Reha. Das nächste Zwischenziel und Dielenbergs großer Traum ist es, seine Freundin endlich zu heiraten – ganz amtlich.
Für Matei Baicu schienen für einen kurzen Moment alle Probleme gelöst. Die Eisdiele, in der er im Sommer 2022 arbeitete, stellte ihm eine Wohnung zur Verfügung und er war krankenversichert. Sein Vertrag galt für drei Monate. Können Beiträge wegen Jobverlust nicht gezahlt werden, ändern die Krankenkassen den Versichertenstatus auf „ruhend“. Damit sind bei einer gesetzlichen Krankenkasse akute und chronische Erkrankungen und Notfälle abgedeckt. Nicht bei Baicu: Die Kasse meldete ihn etwa drei Wochen nach Vertragsende ab.
Das sollte eigentlich nicht passieren, zumindest nicht in so kurzer Zeit: 2019 trat das Versichertenentlastungsgesetz in Kraft. Zahlen Versicherte ihre Beiträge nicht und können nicht erreicht werden, dürfen Krankenkassen Schuldner*innen aus der Krankenversicherung ausschließen. Das Ziel: Nur temporär versicherte Saisonarbeiter*innen, die das Land wieder verlassen haben, nicht unnötig lange als „Karteileichen“ zu führen.
„Aber Baicu bleibt ja weiterhin in Deutschland, und hier herrscht Krankenversicherungspflicht, auch wenn er nicht arbeitet“, sagt Ilea von Ärzte der Welt. Laut der Projektreferentin käme es immer wieder vor, dass sowohl Deutsche wie auch EU-Bürger*innen von den Kassen abgemeldet würden – obwohl sie vor Ort sind und eine Krankenversicherung brauchen. Manchmal bekommen das die ehemals Versicherten gar nicht mit. Sie öffnen ihre Briefe nicht, sind umgezogen oder wurden wohnungslos. Oder ihnen fehlen die Möglichkeiten, um auf ihren Rechten zu bestehen.
Ilea hat inzwischen erreicht, dass Baicus Versicherung ihn wieder aufnahm. Sein Status ist nun als „ruhend“ eingestuft – findet er wieder einen Job, muss er Mitgliedsbeiträge zurückzahlen.
Einen Antrag auf Hilfe vom Jobcenter hat Baicu mit Unterstützung im Dezember ausgefüllt. Als EU-Bürger fällt er unter das Ausschlussgesetz: Er bekommt weder Sozialleistungen vom Jobcenter noch Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Erst nach fünf Jahren in Deutschland haben EU-Bürger*innen die Möglichkeit, Sozialleistungen zu bekommen. Baicu hat eventuell die Chance auf eingeschränkte „Überbrückungsleistungen“. Er sagt, er wolle arbeiten, aber dafür muss er gesund bleiben. Er hat kaum eine Chance.
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