Multikultureller Sender in Berlin: Radio geht die Puste aus
Noch existiert das Berliner Freiwilligen-Radio multicult.fm. Der Sender ist in seiner Existenz bedroht und meldete Anfang des Monats Insolvenz an.
Aber um zuzuhören, ist man nicht mal auf den Onlinestream – oder vormittags die Alex Frequenz 91,0 – angewiesen. Es reicht, in die Markthalle zu kommen, wo Lautsprecherboxen direkt auf die Einkäufer:innen gerichtet sind.
Im zweiten Stock, über den Gemüse- und Feinkostständen, thront das Sendestudio, wo man den Moderator:innen direkt zuschauen kann, wie sie ihre Sendungen aufnehmen.
Normalerweise gibt es dort auch die „Multicult Plaza“, wo alle – ganz unabhängig vom Hintergrund und auch den monetären Mitteln – eingeladen sind, sich auszutauschen, sich niederzulassen, gemeinsam Radio zu hören, oder sich ein Getränk im Café on Air zu holen. Normalerweise.
Vorgänger Radio Multikulti
Denn das gemeinnützige Radio muss nach 14 Jahren Insolvenz anmelden. Das teilten die Macher:innen am 1. Februar in einer Pressemitteilung mit. „Die Frage war nicht, warum, sondern eher warum gerade jetzt“, sagt Chefredakteurin Brigitta Gabrin in einem Gespräch mit der taz, „die Finanzierung war immer unsere Achillesferse“.
Ursprünglich war es so: Radio Multikulti, das zum Rundfunk Berlin-Brandenburg gehörte, sendete mittels UKW-Frequenz in mehreren Sprachen über Kultur und Musik aus den verschiedensten Ländern, es richtete sich an Zugewanderte, mehrsprachig Aufgewachsene und kulturell Interessierte.
Der RBB stampfte den Sender jedoch 2008 ein, um 16 Millionen Euro zu sparen, obwohl Mitarbeiter:innen und Hörer:innen protestierten.
Gabrin, die dort von Anfang an arbeitete, reagierte schnell. Sie scharte Freiwillige um sich und gründete ein neues Radio, um die Lücke zu schließen. Das war der Beginn von multicult.fm, die erste Sendung produzierten sie an Silvester 2008, die im Internet-Stream zu hören war. Sendeort: ein altes Schiff, die „MS Heiterkeit“, das einem RBB-Techniker gehörte.
Das Problem der Finanzierung
Doch Leute und Technik kosteten Geld und die Freiwilligen brauchten ein neues Sendestudio, weil die Streamkapazität im Schiff nicht ausreichte: Zu viele Menschen wollten gleichzeitig auf das Radio zugreifen, das Interesse bestand somit offenkundig.
Die Medienpolitik habe dem Sender eine halbe Millionen Euro in Aussicht gestellt, sagt Brigitta Gabrin. Aber die kamen nicht: „De facto waren die ersten drei bis vier Jahre reines Ehrenamt.“
Jährlich braucht der Sender 150.000 Euro, um den Regelbetrieb aufrechtzuhalten. Bis heute bekommt multicult.fm als nicht kommerzieller Sender jedoch keine Regelfinanzierung.
‚private/public‘-Finanzierung, einzigartig in Deutschland
„Faktisch werbefrei, nur mithilfe von Spenden und Fördergeldern gelingt wirtschaftlich 14 Jahre lang eine ‚Private/public‘-Finanzierung aus privaten und öffentlichen Mitteln, die für einen Radiosender in der Bundesrepublik Deutschland einzigartig ist“, steht in der aktuellsten Pressemitteilung.
Das Radio kann sich querfinanzieren, indem es Workshops und Einzelcoachings anbietet, auch das Sendestudio kann man für einzelne Projekte mieten. Pro Jahr werden außerdem zwei bis drei Projektanträge gestellt, die Finanzierung dafür kommt aus verschiedenen Fördertöpfen.
Geförderte Projekte
Ein großes Projekt der jüngeren Zeit hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit 50.000 Euro gefördert: die „Multicult Plaza“, die als interkultureller Veranstaltungsort ausgebaut werden sollte.
Ein weiteres für zwei Jahre vom Europäische Sozialfonds gefördertes Projekt: „Crossmedia for Change!“ Dort wurden momentan arbeitslose Journalist:innen in multimedialer Arbeit gecoacht, um wieder einen Einstieg in die Arbeitswelt zu finden.
Laut der Chefredakteurin hätten die durch die Projekte entstandenen Erträge das Radio zumindest teilfinanzieren können. Corona machte dem ein Strich durch die Rechnung, die „Multicult Plaza“, war menschenleer, die gesamte Organisationsstruktur von „Crossmedia for Change!“ musste verändert werden.
Nur mithilfe staatlicher Überbrückungs- und Soforthilfen habe die gemeinnützige Unternehmergesellschaft überlebt, heißt es in der Presseerklärung. Aber der coronabedingte Stau in den EU-Fördertöpfen habe nun in das vorläufige Insolvenzverfahren geführt. Mit weniger stattfindenden Projekten gehe einher, dass nicht so viele Inhalte für die Sendungen produziert werden. „Deswegen läuft hier momentan mehr Musik als normal“, sagt Gabrin.
Die Rolle der Ehrenamtlichen
Drei Vollzeitarbeitsplätze bei multicult.fm fördert das Jobcenter, zwei sind aus Eigenmitteln finanziert. Im Prinzip betreibt das Radio aber ein Team von 60 Ehrenamtlichen. Laut Gabrin hat die Hälfte davon einen Migrationshintergrund, andere waren eine Zeit lang im Ausland.
Rekrutiert würden die freien Mitarbeiter:innen „ganz organisch“, einige blieben nach einem Schulpraktikum einfach da, andere sind schon in Rente, die Altersspanne ist laut Gabrin groß.
Einer der Freiwilligen ist Eike Gebhardt, 80 Jahre alt. Er hat 20 Jahre in den USA gewohnt, wo er unter anderem eine Professur an der Universität Yale innehatte und auch lange als Journalist tätig war. Immer Freitagmorgens ist er mit dem Format „KulTour“ auf Sendung.
Er lädt sich regelmäßig Gäste ein. „Ich habe ein großes Adressbuch aus der Vergangenheit“, sagt er. Mal habe er mit Sahra Wagenknecht gesprochen, mal mit dem amerikanischen Botschafter.
Dass der RBB 2008 das Vorgängerradio Multikulti abschaffte, nennt Gebhardt eine „Schweinerei, wirtschaftlich und politisch“. Für ihn ist multicult.fm ein Mittelpunkt des Kiezes: „Hier treffen sich Leute aus verschiedenen Milieus und sozialen Klassen.“
Das Radio als Schlüssel zu Communities
Auch die Chefredakteurin sieht das so: „Wir sind ein wichtiger Schlüssel zu Communities und haben viel Credibility. Manche kommen hier in Schlappen vorbei, sehen junge Leute und quatschen mit denen.“
Nach den Silvesterkrawallen hätte das Radio laut Gabrin der erste Ansprechpartner sein können. Freiwillige der bilingualen Sendung „Culture Clash“ hätte sie auf die Straße schicken können, um den Hintergründen der Krawalle auf die Spur zu gehen. 30 junge Menschen aus verschiedenen Kulturen und Ländern arbeiten bei „Culture Clash“ – aber die Mittel für einen solchen Beitrag waren einfach nicht da.
Auch die Freiwilligen selbst stünden teils nicht mehr zur Verfügung, berichtet Gabrin. Deren Leben habe sich seit dem Ukrainekrieg und der Energiekrise verändert. Viele hätten weniger Zeit und Mittel, noch in ihrer Freizeit Radio zu machen: „Ehrenamt muss man sich leisten können“, sagt Gabrin. Dazu komme, dass die Herkunftsfamilie von Migrant:innen manchmal mitfinanziert werde.
Ein Verlust der Multikulturalität
Hörer:innenpost bekommt multicult.fm aus vielen Ländern, einige Sendungen werden im Ausland produziert. Gabrin erzählt, dass kürzlich zwei neue Moderatorinnen zu „Culture Clash“ kamen: aus Polen und Frankreich. Die Französin macht die Sendung auf Deutsch, nimmt sie auf und schickt sie Gabrin zum Redigieren. „Ich habe es ihr noch nicht gesagt“, erzählt die Chefredakteurin mit sorgenvollem Blick.
Es, das ist die unsichere Zukunft des Radios. Bis zum 1. April kann multicult.fm den Sendebetrieb noch fortführen; was dann ist, wird sich in den nächsten Wochen entscheiden. Der letzte Antrag über 70.000 Euro für ein Podcast-Projekt wurde abgelehnt. Mit der Einstellung des Sendebetriebs würden vier Honorarkräfte, zwei Praktikant:innen, fünf Vollzeitangestellte und zahlreiche Ehrenamtliche ihren Job verlieren – und Berlin sein multikulturelles Radio.
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