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Personalmangel in den SchulenKeine Zeit für Kinder

Ganztagsschulen fehlen Erzieher*innen, die Gewerkschaft GEW schlägt Alarm. Sinnvolle Arbeit sei kaum möglich, wenn eine Fachkraft 40 Kinder betreut.

Schlecht betreut: Meist bleiben für das Schulmittagessen nicht mehr als 20 Minuten

Berlin taz | Die Otto-Wels-Grundschule in der Kreuzberger Alexandrinenstraße liegt mitten in einem sogenannten Brennpunkt: 95 Prozent der Kinder, so Schulleiter Steffen Sibler, kommen aus Familien, die staatliche Hilfsleistungen empfangen. Etwa 20 Prozent der Kinder hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Die meisten, sagt Sibler, lebten zu Hause in beengten Verhältnissen, hätten wenig Kontakt zur deutschen Sprache.

„Umso wichtiger ist es, dass die Kinder nachmittags in der Schule ein Mittagessen und einen strukturierten Tagesablauf haben“, sagt Sibler. Nur: Das ist mit dem Personalschlüssel, den der Schulleiter zur Verfügung hat, an vielen Tagen schlicht nicht mehr leistbar.

Anderen Schulen gehe es ähnlich, sagte die Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft GEW, Martina Regulin, am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in der Kreuzberger Grundschule. Die GEW schlägt deshalb Alarm: Der derzeit geltende Personalschlüssel von einer Er­zie­he­r*in auf 22 Kinder existiere lediglich auf dem Papier. In der Realität betreue eine Erzieherin nicht selten mehr als 40 Kinder, sagt Regulin.

„Das ist schon eine Abfertigung, die da passiert“, sagt Manuela Prause, koordinierende Erzieherin an der Otto-Wels-Grundschule. Dinge wie Hausaufgabenbetreuung oder gar Extras wie das Faschingsfest fielen hinten runter. Um Personal zu sparen, haben Prause und Schulleiter Sibler nun die Öffnungszeiten des Schulhorts verkürzt. Das dürfen Schulen tun, wenn sie es bei der Schulaufsicht im Bezirk begründen – und wenn die Eltern nicht widersprechen. Sibler sagt, viele Eltern seien nicht berufstätig und könnten das organisieren. „Aber für die Kinder ist das eine Tragödie.“

In Berlin ist die Ganztagsschule die Regelschulform. Das heißt, alle 368 öffentlichen Grundschulen bieten Betreuung zwischen 6 und 18 Uhr an, also über die Unterrichtszeiten hinaus. Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD), die 2023 Vorsitzende der Kultusministerkonferenz ist, will den „guten Ganztag“ zum inhaltlichen Fokus ihrer Präsidentschaft machen.

Dringend mehr Personal

Doch dafür brauche es eben dringend mehr Personal, sagt Regulin von der GEW. Und zwar nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Erzieher*innen. Alle Koalitionsparteien der jetzigen rot-grün-roten Koalition hätten vor der Wahl 2021 damit geworben, den Personalschlüssel verbessern zu wollen. „Aber passiert ist seitdem nichts.“

Die GEW will einen Schlüssel von einer Erzieherin auf 15 Kinder. Dass ein dann rechnerisch notwendiger Mehrbedarf von 1.900 Voll­zeit­er­zie­he­r*in­nen angesichts des Fachkräftemangels schwierig wird, sei der GEW bewusst: Man fordert deshalb eine schrittweise Absenkung des Schlüssels.

Erzieherin Prause sagt: „Wenn wir uns nachmittags nicht um die Kinder kümmern können, merken die Lehrer das auch am nächsten Tag im Unterricht. Dann gibt es Konflikte.“ Ihr wäre schon viel geholfen, wenn sie wenigstens eine Vertretung für Langzeitkranke und Kolleginnen im Mutterschutz bekommen würde. Seit der Pandemie müssen schwangere Erzieherinnen unverzüglich ins Homeoffice geschickt werden. Doch im Stellenplan bleiben sie erhalten, als wären sie vor Ort einsetzbar. Für Langzeitkranke gebe es erst nach einem Jahr eine Vertretung – und auch das nur theoretisch, sagt Schulleiter Sibler, weil die zuständigen Personalstellen sehr langsam und intransparent arbeiteten.

Fallen Lehrkräfte aus, können die Schulen hingegen selbständig und unbürokratisch über einen Vertretungsmittelfonds nachsteuern. Den gibt es für Er­zie­he­r*in­nen nicht. Auch das ist eine Forderung der GEW an den nächsten Senat nach der Wiederholungswahl am 12. Februar.

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