Filmgroteske „Petrov’s Flu“ im Kino: Entführt im Leichenwagen
In Kirill Serebrennikows Filmgroteske „Petrov’s Flu“ flüchtet eine Familie aus dem Irrsinn des postsowjetischen Alltags in radikale Befreiungsfantasien.
Fantasie kann eine tolle Sache sein, doch hat sie die Kehrseite, dass sie ganz gern mal ungesteuert ihr Ding macht und aus dem Unbewussten allerlei dunkle Dinge emporsteigen lässt. Das ist jedenfalls bei den Petrows so, einer ganz normalen russischen Familie, die, genauer betrachtet, eine ganz normale postsowjetische Familie ist, denn eben um das Ausloten dieser Schnittmenge geht es hier.
Der derzeit im deutschen Exil lebende Starregisseur Kirill Serebrennikow, der von den russischen Behörden wegen angeblicher Veruntreuung in einen jahrelangen Hausarrest gezwungen worden war und in jüngster Zeit gerade rechtzeitig vor Kriegsbeginn in den Westen hatte ausreisen dürfen, drehte „Petrov’s Flu“ („Petrow hat Fieber“) im Jahr 2020, während gleichzeitig sein Prozess verhandelt wurde.
Es handelt sich um eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Alexei Salnikow (in deutscher Übersetzung kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen). Und da der Regisseur, ähnlich wie die Petrows, über jede Menge Fantasie verfügt, hat er für die filmische Umsetzung so manches hochgeholt, was der Autor im Bodensatz seines Romans vergraben hatte. Dinge, die in der Literatur nur angedeutet werden, muss ein Film zeigen, damit sie vorstellbar werden. Wie das hier geschieht, kann ruhig (kon)genial genannt werden.
Die Petrows sind Vater, Mutter und Sohn; und wenn diese Aufzählung mit dem Vater anfängt, dann deshalb, weil er es ist, um den sich in diesem Film das Universum einer surrealistischen nachsowjetischen Welt auf recht beunruhigende Weise dreht.
„Petrov's Flu“. Regie: Kirill Serebrennikow. Mit Semjon Sersin, Tschulpan Chamatowa u. a. Russland 2022, 145 Min. Ab 26.1. im Kino
Entführung aus dem Bus
Petrow (Semjon Sersin), der grippebedingt hohes Fieber hat, ist mit dem Bus unterwegs, und zwar eigentlich nach Hause; aber auf dem Weg dorthin wird er entführt von seinem Bekannten Igor, der den Bus anhält, um Petrow herauszuholen und in einem Leichenwagen auf eine Sauftour mitzunehmen, die erst einen oder auch zwei Tage später endet. Fast von Beginn an werden wir unmissverständlich darauf hingewiesen, dass hier in Bezug auf die Realitätsebenen im Grunde alles als missverständlich zu verstehen ist.
Schon bevor Igor den Bus anhält, ist Petrow nämlich einmal kurz entführt worden, um sich an einem Erschießungskommando in altstalinistischer Manier zu beteiligen. Diese Szene gibt es im Roman gar nicht; dort stellt Petrow sich während der Busfahrt nur flüchtig vor, getriggert von Gesprächen der Mitpassagiere, dass Wladimir Putin an einer Wand steht und auf seine Erschießung wartet. Das wiederum filmisch zu zeigen wäre natürlich unvorstellbar.
Stattdessen baut Serebrennikow zwar eine Erschießungsszene filmisch aus, wendet sie aber zugleich ins Allgemeine und zeigt damit zweierlei: einerseits, ziemlich beiläufig, die brutale Verrohung der Gedanken auch der allerfriedfertigsten Menschen, der netten, gebildeten Otto-Normal-Petrows. Zum anderen, und vor allem, fungiert diese drastische Szene in ihrer absurden Explizitheit als Demonstration für die Unzuverlässigkeit aller Bilder, die im Folgenden gezeigt werden.
Das Besäufnis und ein Selbstmord
Der Großteil der nächsten Handlungselemente – Petrows Fahrt im Leichenwagen, das Besäufnis mit Igor und dessen Bekanntem und auch Petrows unrühmliche Beteiligung am Selbstmord eines glücklosen Schriftstellers – können mithin weder eindeutig dem Reich der Fantasie noch jenem der Wirklichkeit zugeordnet werden.
Und wenngleich die Entführung aus dem Bus ein ausgesprochen unwahrscheinliches, surrealistisches Element ist, so bleibt sie andererseits doch die einzige Erklärung dafür, dass Petrow trotz seines fiebergeschwächten Zustands erst am nächsten Tag volltrunken zu Hause ankommt. Fast noch gruseliger schillert das Wirken von Petrowa (Tschulpan Chamatowa), Petrows geschiedener und dennoch mit ihm zusammenlebender Ehefrau, zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
Petrowa ist eine Bibliothekarin mit lebhafter Einbildungskraft, die nicht nur im Fieberwahn heimliche Mordgelüste gegen Personen männlichen Geschlechts hegt. Meistens (etwa wenn sie sich vorstellt, dass sie aus Versehen ihrem eigenen kleinen Sohn die Kehle durchschneiden könnte) setzt sie diese nicht in die Tat um, manchmal (wenn sie findet, dass jemand ein gewalttätiger Perversling ist) aber doch. Möglicherweise, wer kann das schon genau sagen.
Einen von Petrowas Morden erleben wir jedenfalls – darin geht der Film deutlich weiter als der Roman – hautnah mit. Er findet auf einem Spielplatz am Rande einer desolaten Hochhaussiedlung statt, und angesichts der verrosteten Klettergerüste aus mindestens Breschnews Zeiten, die dort noch herumstehen und von der Kamera (Wladislaw Opeljanz) sehr sinister in Szene gesetzt werden, sind destruktive Gefühle jeglicher Art nur allzu nachvollziehbar.
Modrige Atmosphäre des sowjetischen Zeitalters
Ohnehin sieht es überall in diesem Film so aus, als sei das sowjetische Zeitalter niemals vergangen. Nicht der leiseste Hauch von urbaner Modernität kränkelt die gediegen modrige Atmosphäre an, die von den Bildern ausgeht. Die Menschen tragen Klamotten wie aus dem Kostümfundus, die Wohnung der Petrows scheint seit mindestens siebzig Jahren nicht renoviert worden zu sein, und in der Bibliothek hängt in einer hinteren Ecke noch ein großes Leninbild. Dass die ProtagonistInnen ganz selbstverständlich Handys benutzen, wirkt regelrecht anachronistisch.
Farbtupfer zwischen den alles grundierenden Braun- und Grautönen entfalten eine dezent groteske bis irritierend poetische Wirkung, wie etwa der tiefblaue Riesen-Micky-Maus-Kopf, den Petrow sich spaßeshalber aufsetzt, als er mit seinem Sohn durch die triste graue Betonauffahrt schlendert, die zu ihrer Mietskaserne führt. Da kommen die beiden gerade vom Neujahrsfest, das in Russland eine Riesensache ist und für Kinder etwa dasselbe bedeutet wie für hiesige Kinder Weihnachten.
Zu den öffentlichen Feiern, bei denen die immer gleichen Figuren immer gleiche Sprüche aufsagen und Väterchen Frost Süßigkeiten an die Kleinen verteilt, gehen die Kinder verkleidet. Petrow wird bei dem Anlass umgehend mental zurückversetzt in seine eigene Kindheit und zu einem Neujahrsfest, bei dem er die Hand einer Snegurotschka, einer Schneejungfrau, anfassen musste, die wirklich sehr kalt war.
Russisches Neujahrsfest
Die Szenen der Feier aus Petrows Kindheit unterscheiden sich, abgesehen von gewissen Fortschritten in der Kostümierung, kaum vom postsowjetischen Event des Sohnes. Beide verbreiten die freudlose Atmosphäre latent bedrohlichen Karnevalstreibens, die umso beklemmender wirkt, als die Kamera Kinderposition eingenommen hat und von unten auf das lautstarke Ritual blickt.
Von heute aus gesehen möchte man gern aus den Bildern dieser vor über zwei Jahren gedrehten Alltagsgroteske eine Erklärung dessen herauslesen, was seitdem geschah. Das geht nicht; wenngleich man manche Dinge vielleicht doch ein bisschen besser versteht.
Serebrennikow zeigt eine Gesellschaft, die sich zombiegleich in überholten Normen verhakt hat und in der die Freiheit des unabhängigen Individuums sich im großen Ganzen darin erschöpft, sich besinnungslos zu besaufen oder sich aus der deprimierenden Muffigkeit des Alltags in radikale Befreiungsfantasien zu retten.
Als poetisch-satirische Analyse der postsowjetischen russischen Wirklichkeit ist das großartig gemacht und erzählt, aber aus dem finsteren Humor von Roman und Film spricht auch tiefe Verzweiflung. Unvorstellbar, dass dieser Film noch vor gut zwei Jahren in Russland produziert werden konnte.
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