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Repression gegen Linke ab 1973Kretschmanns späte Entschuldigung

Der Radikalenerlass hinderte tausende vermeintlich Linksradikale am Berufseinstieg. Baden-Württembergs Ministerpräsident entschuldigte sich nun.

Schon damals klar als Unrecht erkennbar: Opfer des Radikalenerlsses protestieren 1978 Foto: Klaus Rose/imago

Karlsruhe taz | Es ist eine Entschuldigung nach mehr als 50 Jahren. Von einem, der selbst betroffen war. „Sie haben zu Unrecht durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt. Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr“, schreibt Winfried Kretschmann am Donnerstag in einem offenen Brief an die Betroffenen des „Radikalenerlasses“, der vielen Menschen zwischen 1973 und 1990 den Berufsweg aus politischen Gründen verbaute.

Eine Rehabilitation oder gar Entschädigung für die aus dem Staatsdienst Entlassenen ist damit aber nicht verbunden: Eine Einzelfallprüfung erweise sich in vielen Fällen wegen fehlender Akten als unmöglich, erklärt das Staatsministerium.

Die Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote Baden-Württemberg erkennt den Brief gleichwohl in einer ersten Reaktion als positives Signal an. „Wir erwarten allerdings, dass bei unseren weitergehenden Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigung spürbare Fortschritte erzielt werden können.“

Kretschmanns Brief ist Teil einer umfangreichen Aufarbeitung des Umgangs mit vermeintlichen oder tatsächlichen Verfassungsfeinden im Staatsdienst in den 1970er- und 1980er-Jahren, die das Land mit einer wissenschaftlichen Studie der Universität Heidelberg seit 2018 vorangetrieben hat.

Kretschmann war selbst fast Opfer

Baden-Württemberg hatte die Regelüberprüfung der Verfassungstreue unter dem sinnigen Namen „Schieß-Erlass“ besonders lange und besonders konsequent angewandt: Zwischen 1973 und 1990 waren allein im Südwesten 700.000 Anwärter für den öffentlichen Dienst überprüft worden.

Die Ergebnisse waren im Vergleich zum Aufwand dürftig. 200 Bewerber wurden nach der Überprüfung abgelehnt, 60 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es hatte überhaupt nur in 0,3 Prozent der Anfragen irgendwelche Erkenntnisse gegeben. Kretschmann resümiert: „Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt. Das war falsch.“

Unter dem Eindruck eines starken Linksrucks an den Hochschulen hatten der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt mit den Ministerpräsidenten der Länder 1972 den sogenannten Extremistenbeschluss gefällt. Das Saarland stoppte die Praxis als erstes Bundesland 1985, Bayern als letztes erst 1991. Nach Schätzungen der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte gab es bundesweit zwischen 1,8 bis 3,5 Millionen Verfassungsschutzanfragen. 1.000 bis 2.000 Menschen seien nicht eingestellt worden.

Der heutige Grüne Kretschmann zählt selbst zu den Opfern des Radikalenerlasses. Wegen seines Engagements in der Hochschulgruppe des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre drohte dem Lehramtsstudenten das Berufsverbot. Nur die Fürsprache des damaligen Präsidenten der Universität Hohenheim ebnete ihm dann doch noch den Weg in den Beruf.

Kretschmann zieht in seinem Brief Schlüsse für die Gegenwart: Der Staat müsse sich zwar konsequent, aber „mit Augenmaß“ gegen seine Gegner wehren. Dabei das ganze Spek­trum des Extremismus im Auge zu behalten und nicht, wie damals vor allem der Linksextremismus. Zudem müsse man Menschen zubilligen, dass sie sich ändern, und sie an ihren Taten messen. Er selbst sei heute dankbar dafür, „dass die Demokratie mir eine zweite Chance gegeben hat“, schreibt Kretschmann an jene, die nicht dieses Glück hatten.

Christina Lipps, Sprecherin der Initiative gegen den Radikalenerlass, gibt sich mit der Studie und dem offenen Brief nicht zufrieden. Sie vermisst weiterhin die Rehabilitation und einen Schadensersatz für alle Betroffenen. Stattdessen versuche Kretschmann eine Spaltung in zu recht und zu unrecht aus dem Staatsdienst Entfernte.

Aber Lipps stellt klar: „Alle juristische Gutachten und Urteile haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass es in jedem Fall Unrecht war, die Betroffenheit nach ihrer vermeintlichen Gesinnung und nicht nach ihren Taten zu beurteilen.“ Im Februar will sich Kretschmann mit den Betroffenen an einen Tisch setzen.

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3 Kommentare

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  • Ich werde jetzt bald 75 - und war als nebenamtliche Lehrkraft mit 8 anderen nebenamtl. lehrkräften an der FHS Mannheim vom einem Berufsverbotsverfahren betroffen. das hat mir meine weitere karriere als dipl.psychologin an der FHS und evtl, auchn an der uni versaut.



    eigentlich hatte ich vor, diesen karriereweg einzuschlagen, da ein berufliches weiterkommen bei meinem damaligen arbeitgeber unmöglich war (nur eine stufe - leitung der einrichtung wäre möglich gewesen und damit ende gelände.

    enttäusht verließ ich mannheim ...



    werde jetzt mal die "anklageschrift" raussuchen und einem RA übergeben. soll er mir doch mal ausrechnen, wieviele 100.000 DM/€ mir entgangen sind



    übrigens wurden mir statt der vorgeschriebenen grenze von 6 jahren 7 jahre ständige beobachtung "in Rechnung" gestellt - und da gab es so einiges.

    Orga einer demoreise (ein Bus mit demonstrierenden) nach paris (100 jahre pariser commune), orga einer deutschen demoteilnahme (wieder 1Bus) wegen Chile 1973 u. so sachen. ich hätte eine "Rote universität" angestrebt - ganz recht, das unter diesem label liefen auch ziele französischer studenten (Mai 68).

    tatsächlich konnte mir der verfassungsschutz 7 jahre lang jährlich recht viele solche schrecklichen verbrechen (s.o.) vorwerfen, da ich nun mal in psychologischer Fachschaft, psychologischer basisgruppe, mitglied im asta zuständig für basis-gruppen,



    demos mitveranstaltete gegen die letzten beiden todesurteile mit der garotte im franco-Spanien (Polizei setzte dabei pferde gegen uns ein!!!)

  • Nett gemeint, aber sinnlos.



    Entschuldigen kann man sich nicht, man kann den anderen, die verletzte Partei, um Entschuldigung bitten. Das Entschuldigen ist der Akt des Betroffenen und nur des Betroffenen.



    Es ist auch nicht möglich, für andere oder für eine Institution um Entschuldigung zu bitten, man ist und bleibt ein unbeteiligter Dritter. Man kann das fehlerhafte und falsche, ja auch das bewußt schädigende Handeln deutlich benennen und es entsprechend bewerten, sich selbst damit positionieren.

    Was hier und jetzt wichtig wäre, wäre ein anderes Handeln einzufordern. Einen anderen Umgang des Staates mit Menschen, die Dinge anders sehen und anders bewerten als jene, die an der Macht sind.

  • Wenn man den Einzelfall nicht prüfen kann, so ist doch eine pauschale Entschädigung als Symbol möglich.