Bilanz der WM 2022 in Katar: Das Runde im eckigen Leben
Der Partycharakter einer WM funktioniert auch in einer totalitären Monarchie. Als Problemlöser von Wertekonflikten ist der Fußball aber überfordert.
Wer erfahren will, was Katar für ein Land ist und wie es tickt, dem wird bereits nach wenigen Meldungen der Qatar News Agency klar: Katar ist eine totalitäre Monarchie, die, wie damals die Diktatur des Proletariats, nach Lob giert.
Alle Autokraten leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. In der DDR zählte man nach jeden Olympischen Spielen die Medaillen zusammen, und gewann der Ostblock mehr als der Westen, galt das als Beleg für die Überlegenheit des Systems. Da Katar das schlechteste Team dieser WM aufs Feld schickte, neigt man im Golfstaat dazu, die wirtschaftlichen und logistischen Erfolge auszustellen. Ein Beispiel? Nun, im dritten Quartal dieses Jahres hat das kleine Land mit den großen Bodenschätzen einen Überschuss von 30 Milliarden Dollar erwirtschaftet.
„Der Staat Katar verankert sich mit der Ausrichtung einer außergewöhnlichen Ausgabe der Weltmeisterschaft auf der internationalen Sportkarte“, schreibt die Qatar News Agency. Das Heischen nach Anerkennung und Bedeutung kennt keine Grenzen, auch das Herausstellen der eigenen Leistungen: „12 Jahre Planung und Kreativität: Katar gewinnt die Wette und organisiert die beste Ausgabe der Weltmeisterschaft“, schreiben die Regierungspropagandisten und liefern damit eine Vorlage für Fifa-Chef Gianni Infantino, die er sicherlich in seine Abschiedsrede einbauen wird: „Das war die beste WM aller Zeiten.“
Wo sind die Katarer in Katar?
Wie in Russland 2018. Der Fußballweltverband ist ja auch so ein Zahlenhuber, der immer wieder Superlative und Rekorde bemüht, um seine Einzigartigkeit zu betonen. Das erklärt auch die Nähe der großen Sportverbände zu Staaten wie Russland, China, Aserbaidschan – oder Katar.
Katar war in diesen Wochen der WM aber auch ein Weltort, ein Melting Pot. Mir sind Leute aus Pakistan, Nepal, Bangladesch, Indien und Sri Lanka, Mexiko, den USA, Argentinien, Uganda, Kenia, Marokko und vielen anderen Ländern über den Weg gelaufen. Die meisten WM-Gäste kamen aus Saudi-Arabien, dem verfreundeten Nachbarstaat. Allein: Ich habe kein einziges Gespräch mit einem echten Katarer geführt. Oder doch?
Ein Katar-Experte hatte mir dieses Szenario vor meiner Reise an den Golf ausgemalt. Dort lebe man in getrennten Welten. Hier die Einheimischen, die per Stammesrecht über Privilegien verfügen – und da das Heer der Subalternen, der Zuarbeiter und Wohlstandssicherer, die sich mit 300 Euro im Monat durchschlagen müssen. Ein Ständesystem, für dessen Ungerechtigkeit man kein besonderes Gespür braucht.
Mag ja sein, dass Katar in vielerlei Hinsicht über den eigenen Schatten gesprungen ist, die gesellschaftlichen Regeln, nach denen in Doha gespielt wird, wurden während des Turniers nicht gebrochen. Es gibt, vereinfacht gesagt, die da oben und die da unten. In der Mitte bewegten sich die WM-Fans, zumeist auch keine armen Leute, die sich ihr Wüstenabenteuer schon mal 10.000 Dollar kosten ließen: gut betuchte Mittelständler mit Sombrero-Hut, dem neuesten Adidas-Nationalmannschafts-Shirt für 90 Euro oder dem „Hymnen-Jäckchen“ für 120.
Gute Logistik, volle Arenen
Sie feierten auf den Fanmeilen bis in die Puppen. Oft wurde die Party erst mit dem Morgenruf des Muezzin beendet. Die hochmoderne Metro schubste Millionen Menschen vom Lusail-Stadion nach Education City und zurück. Die Logistik funktionierte ziemlich gut, die Auslastung der acht Arenen lag bei über 90 Prozent, und OK-Chef Hassan Al-Thawadi wird noch weitere Belege finden für ein „großartiges“ Turnier.
Katar hat sich die Reputation mit Milliarden von Petrodollars erkauft – und sich während des Turniers gewundert, warum der Westen die Glitzerwelten der West Bay und den Historismus des Souk Waqif, eines Marktplatzes in Doha, nicht uneingeschränkt bewundert, sondern immer diese Fragen nach Pressefreiheit, den Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter, dem Antisemitismus und der Schikane gegen Schwule und Lesben stellt. Ansichten über die Universalität der Menschenrechte sind in Katar auf ein islamisch-tribalistisches Hausrecht gestoßen, das Emir Tamim Al-Thani exekutiert, weil es aus den Wurzeln des Wüstensandes gewachsen sei.
Zuletzt erzürnte sich Katars Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani in der Washington Post über kritische Beobachter, die eine andere Meinung vertreten als die Katarer. Der Politiker wies in bester Honni-Manier auf die freudigen Szenen von Fans hin, die gemeinsam in Doha feiern, die positive Stimmung, die durch die Weltmeisterschaft im Nahen Osten gefördert werde, und „auf die echten Arbeitsreformen“, die Katar in den vergangenen Jahren implementiert habe: „Alle Reformen in den letzten zwölf Jahren, die Katar beschlossen hat, wurden umgesetzt. Es wurde so abgebildet, dass Katar einfach die Tatsache ignoriert, dass es ein Problem gibt – was nicht der Fall ist.“
Die Sicht auf Katar sei zu negativ und das sei enttäuschend, so Al-Thani. Der Blick auf den WM-Ausrichter war hier und da nicht ohne Tendenz, gewiss, aber Katar selbst provozierte den Widerspruch durch plumpes Beharren auf der eigenen Sichtweise.
Verwirrung um Todeszahlen
OK-Chef Al-Thawadi hatte in Turnierwoche zwei in einem Interview gesagt, dass „zwischen 400 und 500“ Arbeiter auf den Stadionbaustellen umgekommen seien. Das WM-OK präzisierte dann: Die Zahl liege bei 414, wies aber im gleichen Atemzug darauf hin, dass sich Al-Thawadis Aussage auf alle arbeitsbedingten Todesfälle in Katar zwischen den Jahren 2014 und 2020 beziehe. Für die Stadionbaustellen hatte Fifa-Chef Infantino einmal die Fake-Zahl von drei Toten verbreitet. Die katarischen WM-Organisatoren hatten in der Vergangenheit auch von 37 Toten gesprochen, andere Quellen zuvor von mehr als 6.500 oder gar 15.000 toten Gastarbeitern (Amnesty International).
Den Wanderarbeitern, die in der sommerlichen Gluthitze Katars ihr Leben riskieren, kam diese WM gelegen. Unter dem internationalen Druck verbesserten sich ihre Arbeitsbedingungen: Das Kafala-System wurde de iure abgeschafft, ein Mindestlohn festgelegt. Und die Erfolge der argentinischen Mannschaft kamen bei den Männern aus Bangladesch oder Nepal besonders gut an.
Sie liefen in Scharen im hellblau-weißen Trikot herum, feierten, da der karge Lohn nicht für einen Stadionbesuch reichte, auf den Fanmeilen mit. Für sie war die WM ein willkommenes Intermezzo im Einerlei der Arbeitstage, auch wenn das Niveau dieses Championats überschaubar war. Es gab nur wenige Partien, die einer Champions League würdig gewesen wären: Der Ballbesitzfußball scheint an seine Grenzen zu stoßen, mehr denn je sind taktische Flexibilität gefragt und die Geistesblitze von Heldenfußballern.
Das Sportliche ist das eine, das andere seine Einbettung in die Politik, und da endete ebenjener Universalismus der Menschenrechte dort, wo Emir Tamim Al-Thani sich auf kulturelle und religiöse Identität berief: ein nicht zu lösender Konflikt. Vom Fußball wurde das Unmögliche verlangt: dass der Sport all die Widersprüche nicht nur aufzeigt, sondern auch versöhnt. Dass Politik und Wirtschaft dem Unterhaltungsbusiness die Aufgabe der Weltverbesserung aufgebürdet haben, während sie ungestört ihre Geschäfte machten, ist nur ein Doppelstandard, der die Ankläger pharisäerhaft wirken ließ.
Aber nach zwei Wochen war auch das vergessen. Denn spielte Messi nicht groß auf? Die normative Kraft des Faktischen, der puren Unterhaltung, ist groß. Sie darf aber nicht zum Motor von Staatspropaganda werden. Und sollte die Qatar News Agency auch noch so sehr die Trommel der Al-Thanis rühren: Der Ball ist rund, aber das echte Leben eckig.
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